Zusammenfassung
Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann zu Zelltod und Entwicklungsstörungen der Organe beim Kind führen. Besonders vulnerabel ist das Gehirn des Ungeborenen. Die pränatale alkoholtoxische Gehirnschädigung ist irreparabel und geht mit einer chronischen Behinderung einher. Die aus pränataler Alkoholexposition resultierende Erkrankung wird unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammengefasst. Hierzu zählen die drei Formen: Fetales Alkoholsyndrom (FAS), partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS) und alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND).
Statistischen Schätzungen zufolge ist die FASD eine der häufigsten angeborenen chronischen Erkrankungen in Deutschland (177 Fälle pro 10.000 Neugeborene). Eine vollständige Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft verhindert die Erkrankung. Dennoch ergeben Daten einer Studie des RKI, dass etwa ein Drittel aller schwangeren Frauen Alkohol konsumiert. Für den deutschsprachigen Raum liegt eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Diagnose von Fetalen Alkoholspektrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis <18 Jahren vor. Sie dient der Einteilung der einzelnen Störungsbilder anhand von vier diagnostischen Säulen: Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten und pränatale Alkoholexposition.
Dieses Kapitel ist im Rahmen einer Kooperation zwischen AMBOSS und dem integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum (iSPZ) im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) entstanden. Beteiligte Autor:innen: Markovic A, Heinen F, Landgraf MN
Einteilung
Zur Differenzierung der einzelnen Formen siehe: Diagnosekriterien der FASD!
Epidemiologie
- Inzidenz: In Deutschland geschätzt 177 Fälle pro 10.000 Neugeborene (entspricht 1,77%) [1]
- Prävalenz: Weltweit geschätzt ca. 2% [2][3]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Risikofaktoren für mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft [4]
- Höheres Alter (>25–30 Jahre)
- Mittlerer bis hoher sozioökonomischer Status
- Kein Migrationshintergrund
- Keine feste Partnerschaft
- Ungeplante Schwangerschaft
- Vorheriger Schwangerschaftsabbruch
- Gewalt- und Missbrauchserfahrungen
- Psychiatrische Erkrankung
- Alkohol- oder Drogenkonsum vor der Schwangerschaft
- Nikotin- oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft
- Alkoholkonsum des Partners / der Partnerin oder anderer Familienmitglieder
- Risikofaktoren für die Entstehung einer FASD [4]
- Höheres Alter (>30 Jahre)
- Geringer sozioökonomischer Status
- African Americans und Native Indians
- Genetische Faktoren
- Mangelernährung
- Geburtshilfliche Komplikationen
- Alkoholkonsum während der gesamten Schwangerschaft
- Hoher und/oder chronischer Alkoholkonsum
- Konsum verschiedener Drogen
Pathophysiologie
- Physiologischer Alkoholabbau [5]
- Oxidation von Ethanol zu Acetaldehyd durch verschiedene Enzyme
- Alkohol-Dehydrogenasen (ADH)
- Cytochrom-P450-Enzym (CYP2E1)
- Peroxisomale Katalase
- Oxidation von Acetaldehyd zu Acetat durch verschiedene Aldehyd-Dehydrogenasen (ALDH)
- Oxidation von Ethanol zu Acetaldehyd durch verschiedene Enzyme
- Fetale Schädigung durch Alkoholkonsum der Schwangeren [6][7]
- Ungehinderter Transport von Ethanol und Acetaldehyd über die Plazenta
- Fetaler Abbau eingeschränkt (Enzymfunktion↓ , Enzymkonzentration↓ )
- Akkumulation von Ethanol, dessen Metaboliten sowie freier Sauerstoffradikale
- Im Blutkreislauf → Störung des Wachstums und der Organentwicklung
- Im ZNS (durch Passage der Blut-Hirn-Schranke) → Störung der Gehirnentwicklung
Die fetale Enzymfunktion und -konzentration ist im Vergleich zu Erwachsenen deutlich geringer!
Ethanol wird ungehindert von der Schwangeren auf das ungeborene Kind übertragen!
Symptomatik
Die klinischen Auffälligkeiten einer FASD lassen sich in Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten und ZNS-Auffälligkeiten unterteilen. Zusammen mit der pränatalen Alkoholexposition bilden sie die vier diagnostischen Säulen der S3-Leitlinie FASD. Die einzelnen Kriterien dienen der Diagnose und Differenzierung der verschiedenen Formen der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Zur Diagnosestellung siehe: Diagnosekriterien der FASD. [4]
Wachstumsauffälligkeiten
- Geburts- oder Körpergewicht ≤10. Perzentile
- Geburts- oder Körperlänge ≤10. Perzentile
- BMI ≤10. Perzentile
Faziale Auffälligkeiten
- Kurze Lidspaltenlänge [4][8][9] (Messung direkt am Kind oder mittels Fotografie )
- Verstrichenes Philtrum [4][10][11]
- Schmale Oberlippe [4][10][11]
- Ggf. zusätzliche unspezifische Auffälligkeiten
- Breite Stirn, Hypertelorismus, Epikanthus
- Kurze Nase, breite und flache Nasenwurzel, antevertierte Nasenlöcher
- Mikrognathie und/oder Retrognathie
- Tief sitzende, nach hinten rotierte Ohren, Ohrmuscheldysplasien
Kurze Lidspaltenlänge, schmale Oberlippe und verstrichenes Philtrum sind die wegweisenden Merkmale eines Fetalen Alkoholsyndroms (FAS)!
ZNS-Auffälligkeiten
- Strukturell: Mikrozephalie ≤10. Perzentile
- Funktionell
- Epilepsie
- Globale Intelligenzminderung oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern <2 Jahren
- Signifikante Beeinträchtigungen in den Bereichen
- Sprache
- Feinmotorik oder Koordination
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutivfunktionen [12][13]
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Fast alle Kinder mit FASD weisen Störungen der Exekutivfunktionen auf!
Angeborene Fehlbildungen [14]
- Angeborene Herzfehler
- Nierenfehlbildungen
- Skelettanomalien
- Neuralrohrdefekte
- Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten
- Auffälligkeiten der Haut und Hautanhangsgebilde
- Sehstörungen
- Hörminderung
Diagnostik
Für eine möglichst frühzeitige und adäquate Diagnostik ist bei V.a. FASD eine Überweisung an ein interdisziplinäres Zentrum sinnvoll (z.B. Sozialpädiatrisches Zentrum oder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie). [4][15]
Mögliche Vorstellungsgründe
- Entwicklungsstörungen
- Kognitive Beeinträchtigungen, Schwierigkeiten in der Schule
- Verhaltensauffälligkeiten, geringe Frustrationstoleranz
- Kein altersadäquates Erledigen von Alltagsaufgaben, Unselbstständigkeit
- Bekannte pränatale Alkohol- und/oder Drogenexposition
Anamnese
- Schwangerschafts- und Geburtsanamnese
- Pränatale Alkoholexposition : Umfang des mütterlichen Alkoholkonsums vor und nach Kenntnis der Schwangerschaft
- Bestätigt: Eigene Aussage der biologischen Mutter oder schriftliche Dokumentation
- Wahrscheinlich: Zumindest mündliche Angabe im Rahmen der Fremdanamnese
- Alter und sozioökonomischer Status der biologischen Eltern
- Andere prä-, peri- oder postnatale Risikofaktoren
- Geburtsmodus und Geburtsablauf
- Gestationsalter und Geburtsmaße (Gewicht, Länge, Kopfumfang)
- APGAR, Nabelschnur-pH, postnataler Verlauf
- Sichtung von Mutterpass und Kinderuntersuchungsheft
- Pränatale Alkoholexposition : Umfang des mütterlichen Alkoholkonsums vor und nach Kenntnis der Schwangerschaft
- Familienanamnese
- Neurologische, psychiatrische, genetische oder metabolische Erkrankungen in der biologischen Familie
- Sozialanamnese
- Stabilität des Familiensystems, Sorgerecht
- Wechselnde Unterbringung des Kindes
- Konflikte oder Gewalt in der Familie
- KiTa-/Schulbesuch, Kontakt zu Gleichaltrigen
- Bisherige und aktuelle Entwicklung (Meilensteine der Entwicklung)
- Motorik und Sprache
- Sozialverhalten (KiTa, Schule, Sportverein, Zuhause)
- Selbstständigkeit
Klinische Untersuchung
- Somatische Daten: Gewicht, Größe, Kopfumfang
- Faziale Auffälligkeiten siehe: Symptome der FASD
- Hirnnerven
- Augenstellung, Lichtreaktion, Blickfolgebewegungen, Nystagmus, Strabismus, Ptosis
- Orientierend Hörvermögen
- Mimik
- Gaumensegel, Uvula, Zungenbeweglichkeit
- Sensomotorik
- Haltung, Spontanmotorik, Tonus, Kraft, Reflexe
- Grob- und feinmotorische Fertigkeiten und Koordination
Neuropsychologische Untersuchung
- Verhaltensbeobachtung
- Spezifische Tests und Fragebögen für die Bereiche
- Entwicklung
- Intelligenz
- Sprache
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutivfunktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Diagnosestellung [4]
Die Unterformen der FASD werden anhand klinischer Kriterien der vier diagnostischen Säulen (Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten, pränatale Alkoholexposition) diagnostiziert. Siehe auch: Symptome der FASD.
Diagnosekriterien der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) | ||||
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Diagnose | Wachstumsauffälligkeiten | Faziale Auffälligkeiten | ZNS-Auffälligkeiten | Pränatale Alkoholexposition |
Fetales Alkoholsyndrom (FAS) |
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Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS) |
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Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND) |
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Für die Diagnose FAS muss der pränatale Alkoholkonsum nicht bestätigt sein!
Differenzialdiagnosen
Bei Wachstumsauffälligkeiten [4]
- Pränatale Wachstumsstörung
- Durch maternale und/oder plazentare Pathologie (Störung der intrauterinen Versorgung)
- Präeklampsie
- Placenta praevia
- Medikamenteneinnahme (z.B. fetales Valproat-Syndrom)
- Drogen- oder Nikotinabusus
- Psychosoziale Belastung
- Durch fetale Pathologie (ohne Störung der intrauterinen Versorgung)
- Endogen
- Genetische Syndrome (z.B. Ullrich-Turner-Syndrom, Silver-Russell-Syndrom)
- Angeborene Fehlbildungen
- Seltene hereditäre Stoffwechselerkrankungen
- Exogen
- Embryofetopathien durch Infektionserreger (z.B. konnatales Rötelnsyndrom, konnatale CMV-Infektion, konnatale Toxoplasmose)
- Strahlenexposition
- Endogen
- Durch maternale und/oder plazentare Pathologie (Störung der intrauterinen Versorgung)
- Postnatale Wachstumsstörung
- Familiärer Kleinwuchs
- Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung
- Skelettdysplasien (z.B. Hypochondroplasie, Achondroplasie, Osteogenesis imperfecta)
- Chronische Erkrankungen
- Malabsorption oder Mangelernährung
Bei fazialen Auffälligkeiten [4]
- Genetische Syndrome (z.B. Noonan-Syndrom, Di-George-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom)
- Mütterliche Erkrankung (z.B. maternale Phenylketonurie) oder Medikamenteneinnahme (z.B. fetales Valproat-Syndrom)
Bei ZNS-Auffälligkeiten [4]
- Funktionell
- Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung
- Einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
- Posttraumatische Belastungsstörung
- Epilepsien anderer Genese
- Strukturell
- Familiäre Mikrozephalie
- Genetische Syndrome
- Pränatale Mangelversorgung
- Toxische Schädigungen (z.B. fetales Valproat-Syndrom)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Da der FASD eine alkoholtoxische und biologisch irreparable Gehirnschädigung zugrunde liegt, ist eine Kausaltherapie nicht möglich. Um eine möglichst gute Alltagsfunktionalität und Lebensqualität zu erreichen, sollte hauptsächlich funktionell therapiert werden. Unterstützend kann eine medikamentöse Behandlung erwogen werden.
Funktionell [16][17][18][19][20][21]
- Psychoedukation und „Coaching-Families-Programme“ (siehe: Tipps & Links)
- Psychosoziale und sozialrechtliche Beratung (Sozialpädagogik)
- Logopädie, Sprachheilpädagogik
- Physiotherapie
- Ergotherapie
- Psychotherapie
Medikamentös [22]
- Therapie zur Verbesserung der Aufmerksamkeit, Konzentration, teils auch der Impulsivität und Hyperaktivität
- Medikamente
- Amphetamine (Methylphenidat , Dexamphetamin, Lisdexamphetamin)
- Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Atomoxetin)
- α2-Rezeptor-Agonisten (Guanfacin)
- Zu beachten
- Zugelassen ab einem Alter von 6 Jahren
- Unterschiedliches Nebenwirkungsprofil
- Monitoring
- Auslassversuche notwendig
- Medikamente
- Therapie zur Verbesserung der emotionalen Regulation, Impulskontrolle, oppositionell-aggressiven Verhaltensweisen
- Medikamente: Atypische Neuroleptika (Aripiprazol, Risperidon)
- Zu beachten
- Monitoring
- Aripiprazol nur für Therapiedauer von 6–12 Wochen zugelassen
- Spätdyskinesien als Nebenwirkung
- Therapie einer Epilepsie
- Medikamente: Anfallssuppressiva
- Siehe auch: Therapie der Epilepsien
- Therapie von Schlafstörungen
- Medikamente/Maßnahmen: Schlafhygiene, Melatonin, Neuroleptika
- Siehe auch: Therapie bei Insomnie
Prognose
Persistenz der Symptome
Aufgrund der irreversiblen gehirntoxischen Schädigung können Defizite bis ans Lebensende persistieren.
Persistierende Symptome und Auffälligkeiten der Fetalen Alkoholspektrumstörung | |
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Wachstumsauffälligkeiten [23] |
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Faziale Auffälligkeiten [23] |
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ZNS-Auffälligkeiten [23][24] |
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Psychische Auffälligkeiten [25][26][27] |
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Ca. 70% aller Erwachsenen mit FASD sind im Alltag auf Hilfe angewiesen!
Protektive Faktoren [1][28]
- Frühe Diagnose (<6 Jahren)
- Stabiles, förderndes Umfeld
- Gewaltfreie Kindheit
Prävention
Ziel der präventiven Maßnahmen ist die Vermeidung der FASD durch möglichst vollständige Alkoholabstinenz während der gesamten Schwangerschaft.
Universelle Prävention [29]
- Zielgruppe: Gesamte Bevölkerung
- Maßnahme: Aufklärung über Alkoholkonsum und die FASD
- Beispiele
- Pädagogische Projekte an Schulen
- Öffentliche Ausstellungen
- Hinweise auf alkoholischen Getränken
- Aufklärungskampagnen, die sich insb. an Schwangere richten
- Projekte siehe: Tipps & Links
Universelle Prävention soll möglichst viele Menschen dazu befähigen, das Risiko für eine FASD durch Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft zu vermeiden!
Selektive und indizierte Prävention [29]
- Zielgruppe
- Selektive Prävention: Schwangere Frauen mit Risikofaktoren für Alkoholkonsum (siehe: Ätiologie der FASD)
- Indizierte Prävention: Frauen, die während der Schwangerschaft Alkohol oder andere Drogen konsumieren
- Anlaufstellen
- Gesundheitspersonal
- Gesundheitsämter
- Schwangeren- und Familienberatungsstellen
- Erziehungs- und Suchtberatungsstellen
- Frühförderstellen und Jugendämter
- Mütter- und Familienzentren
Selektive und indizierte Prävention setzen die Identifikation von Risikofaktoren voraus (siehe: Ätiologie der FASD)!
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- ICD-10: Q86.0 (Alkohol-Embryopathie mit Dysmorphien )
- ICD-11: LD2F.00 (Fetales Alkoholsyndrom)
- DSM-5: ND-PAE (Neurobehavioral Disorder associated with Prenatal Alcohol Exposure)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.