Zusammenfassung
Intraventrikuläre Hämorrhagien gehören zu den häufigsten und schwerwiegendsten Komplikationen bei Frühgeborenen. Sie entstehen i.d.R. durch eine Ruptur fragiler Gefäße der subependymalen germinalen Matrix und treten meist innerhalb der ersten drei Lebenstage auf. Das klinische Bild ist oft subtil und unspezifisch, kann in schweren Fällen jedoch auch von lebensbedrohlichen neurologischen und kardiorespiratorischen Symptomen gekennzeichnet sein. Wichtigste diagnostische Maßnahme ist die zeitnahe Durchführung einer Schädelsonografie. Diese ermöglicht eine bettseitige, nicht-invasive Beurteilung des Schweregrades (Grad I–III, hämorrhagische Infarzierung) und kann für regelmäßige Verlaufskontrollen genutzt werden. Trotz enormer Fortschritte in der Neonatologie existieren weiterhin keine evidenzbasierten Empfehlungen für eine kausale Therapie. Der Kenntnis von Risikofaktoren und dem Einsatz präventiver Maßnahmen kommen daher eine übergeordnete Bedeutung zu. Darüber hinaus ist die Diagnostik und ggf. Therapie möglicher Komplikationen (bspw. posthämorrhagischer Hydrozephalus) entscheidend für die Prognose.
Epidemiologie
- Prävalenz: Abhängig vom Gestationsalter
Prävalenz der IVH bei Frühgeborenen [1] | ||||||
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Schweregrad | Gestationsalter | |||||
22+0 bis 23+6 SSW | 24+0 bis 25+6 SSW | 26+0 bis 27+6 SSW | 28+0 bis 29+6 SSW | 30+0 bis 31+6 SSW | ≥32+0 SSW | |
Grad I | 23% | 20% | 15% | 13% | 8% | <3% |
Grad II | 28% | 17% | 13% | 7% | 2% | <1% |
Grad III | 27% | 17% | 9% | 4% | 1% | <0,5% |
Hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms | 29% | 18% | 8% | 4% | 1% | <0,5% |
Je niedriger das Gestationsalter ist, umso häufiger kommt es zu IVH und hämorrhagischer Infarzierung!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Risikofaktoren
- Prä- und perinatal [2][3]
- Niedriges Gestationsalter
- Männliches Geschlecht
- Prolongierter Geburtsvorgang
- Perinatale Asphyxie mit Reanimation
- Atemnotsyndrom des Neugeborenen
- Neonataler Pneumothorax
- Neugeboreneninfektion
- Persistierender Ductus arteriosus (PDA)
- Gerinnungsstörungen
- Postnatal [2][3]
- Langer postnataler Transport
- Häufige Manipulation
- Hypothermie
- Dehydratation
- Hypokapnie oder Hyperkapnie
- Arterielle Hypotonie oder Hypertonie
- Asynchrone maschinelle Beatmung und/oder hoher Beatmungsdruck
- Infusion hyperosmolarer Lösungen
Niedriges Gestationsalter und perinatale Asphyxie gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren für eine IVH bei Frühgeborenen!
Postnatal müssen häufige Manipulationen sowie Schwankungen des Blutdrucks und des pCO2 unbedingt vermieden werden!
Klassifikation
- Einteilung: Nach Lokalisation bzw. Schweregrad
Schweregrade der IVH bei Frühgeborenen [4][5] | |
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Grad I |
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Grad II |
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Grad III |
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Hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms |
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Pathophysiologie
- Gefäßruptur im Bereich der germinalen Matrix [3][6][7]
- Ursache: Zusammenspiel von drei Hauptfaktoren
- Hohe Vaskularisation und Gefäßfragilität der germinalen Matrix durch
- Relative Hypoxie → Hypoxie-induzierter Faktor 1α↑, VEGF↑, Angiopoietin-2↑
- TGF-β↓ → Perizyten↓, Fibronektin↓, GFAP↓ in Astrozyten-Endfüßen
- Eingeschränkte Autoregulation der zerebralen Perfusion bei Frühgeborenen
- Postnatale Blutdruckschwankungen
- Hohe Vaskularisation und Gefäßfragilität der germinalen Matrix durch
- Ursache: Zusammenspiel von drei Hauptfaktoren
Blutungsquelle der IVH bei Frühgeborenen sind i.d.R. fragile Gefäße der germinalen Matrix!
Symptomatik
- Klinisches Bild [2]
- Asymptomatisch (25–30%)
- Symptomatisch
- Neurologisch: Vigilanzstörung, Neugeborenenanfälle, muskuläre Hypotonie, reduzierte Spontanmotorik, vorgewölbte Fontanelle, fehlende Pupillenreaktion
- Kardiorespiratorisch: Apnoen, arterielle Hypotonie
- Weitere: Störung der Temperaturregulation, Hb-Abfall, metabolische Azidose
- Zeitpunkt [8]
- In 50% der Fälle am 1. Lebenstag
- In 90% der Fälle innerhalb der ersten 3 Lebenstage
Intraventrikuläre Hämorrhagien bei Frühgeborenen sind oft asymptomatisch!
Eine schwere akute Hirnblutung kann innerhalb weniger Minuten letal verlaufen!
Diagnostik
Basisdiagnostik [2]
Körperliche Untersuchung
- Allgemeinzustand, Hautkolorit, Rekapillarisierungszeit
- Körpertemperatur
- Vigilanz, Spontanmotorik, Bewegungsmuster, Muskeltonus, Neugeborenenreflexe
- Augenbewegungen, Pupillenreaktion
- Größe und Spannung der Fontanellen
- Frontookzipitaler Kopfumfang
Vitalparameter
Laborparameter
- Differenzialblutbild
- Entzündungswerte (CRP, IL-6/IL-8)
- BGA
Schädelsonografie [2][5][9][10]
- Vorteile: Nicht-invasiv, bettseitig durchführbar
- Indikationen
- Gestationsalter ≤32 SSW und/oder Geburtsgewicht ≤1.500 g
- Klinischer Verdacht auf IVH (siehe: Symptome der IVH bei Frühgeborenen)
- Zeitpunkte
- Erstuntersuchung möglichst am 1. Lebenstag
- Verlaufskontrollen
- Routinemäßig am 3. und 7. Lebenstag sowie kurz vor Entlassung
- Bei klinischen Auffälligkeiten oder bereits aufgetretener Blutung zusätzlich je nach Befund und Verlauf
- Technische Voraussetzungen
- Sektorschallkopf + Linearschallkopf
- Frequenz 3,5–7,5 MHz
- Möglichkeit zu Farbduplexsonografie und PW-Doppler
- Durchführung
- Zu beachten: Verwendete Schallenergie und Untersuchungsdauer möglichst gering halten (insb. bei schwer kranken Frühgeborenen)
- Standardisierte 2D-Sonografie
- Koronarschnitt durch
- 1) Die Vorderhörner beider Seitenventrikel
- 2) Beide Seitenventrikel und den III. Ventrikel (auf Höhe der Foramina interventricularia)
- 3) Die Hinterhörner und Trigona beider Seitenventrikel
- Sagittalschnitte
- 4) Median durch den III. und IV. Ventrikel, Balken, Vermis cerebelli
- 5) Parasagittal durch den linken und rechten Seitenventrikel
- 6) Parasagittal durch das linke und rechte periventrikuläre Marklager (bei Frühgeborenen)
- Koronarschnitt durch
- Erweiterte 2D-Sonografie
- Axialschnitt durch das temporale Schallfenster
- Longitudinalschnitt durch die kleine Fontanelle
- Koronarschnitt (Linearschallkopf) durch die große Fontanelle
- Farbduplexsonografie und PW-Doppler
- Darstellung zerebraler Gefäße (z.B. A. cerebri anterior und A. cerebri media)
- Anatomie und Verlauf
- Flussrichtung und -profile (Bestimmung des Resistance-Index)
- Darstellung zerebraler Gefäße (z.B. A. cerebri anterior und A. cerebri media)
- Dokumentation pathologischer Befunde
-
IVH Grad I–III
- Lokalisation (links/rechts, subependymal, intraventrikulär)
- Ggf. Ausmaß der Ventrikeleinbruchsblutung (in % des Ventrikellumens)
- Hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms
- Lokalisation (links/rechts, frontal/parietal/temporal/okzipital)
- Größe (klein , mittel , groß )
- Blutung oder hämorrhagische Infarzierung anderer Hirnareale (Basalganglien, Kleinhirn, Stammhirn)
- Posthämorrhagische Ventrikelerweiterung (linker/rechter Seitenventrikel, III. Ventrikel, IV. Ventrikel)
- Siehe auch: Posthämorrhagischer Hydrozephalus
-
IVH Grad I–III
Bei allen Frühgeborenen ≤32 SSW und/oder ≤1.500 g Geburtsgewicht sollte am 1. Lebenstag eine Schädelsonografie durchgeführt werden!
Erweiterte Diagnostik
cMRT [6]
- Vorteil: Bessere Darstellung intrazerebraler Läsionen
- Nachteile: Meist Sedierung notwendig, nicht bettseitig möglich
- Mögliche Indikation
- IVH Grad III
- Hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms
- Posthämorrhagischer Hydrozephalus
- Periventrikuläre Leukomalazie
- Verdacht auf Läsionen der weißen Substanz
- Empfohlener Zeitpunkt: Meist am errechneten Geburtstermin
Erweiterte diagnostische Maßnahmen sind i.d.R. nur bei schweren intraventrikulären Hämorrhagien oder Komplikationen notwendig!
Therapie
- Ggf. symptomatische Therapie [6]
- Stabilisierung von Atmung und Kreislauf
- Transfusionen
- Ggf. Therapie von Komplikationen
Es existieren keine evidenzbasierten Empfehlungen für eine kausale Therapie der IVH!
Komplikationen
Posthämorrhagischer Hydrozephalus
- Definition: Erweiterung der inneren und ggf. äußeren Liquorräume infolge einer intraventrikulären Hämorrhagie
- Häufigkeit: Ca. 25% aller Frühgeborenen mit IVH Grad III [6]
- Pathophysiologie: Intraventrikuläre Hämorrhagie → Blockade der Liquorzirkulation durch Blutkoagel (Hydrocephalus occlusus) und/oder verringerte Liquorresorption durch erhöhte Produktion von Proteinen (Hydrocephalus malresorptivus) → Anstieg des Hirndrucks → Verringerte zerebrale Perfusion → Hypoxie, Ischämie → Schädigung des Hirnparenchyms [7]
- Klinisches Bild [2][7]
- Zunahme des Kopfumfangs
- Gespannte Fontanelle und Dehiszenz der Schädelnähte (insb. der Sagittalnaht)
- Apnoen, Bradykardien
- Lethargie
- Diagnostik [11][12]
- Regelmäßige Messung des frontookzipitalen Kopfumfangs [2]
- Bei Frühgeborenen: 1× wöchentlich
- Bei Hydrozephalus: 1× täglich
- Schädelsonografie mit Bestimmung des Ventrikelindex (VI)
- Durchführung
- Koronarschnitt auf Höhe des Foramen Monroi
- Längenmessung der horizontalen Linie zwischen Falx cerebri und lateralem Rand des Seitenventrikelvorderhorns
- Beurteilung
- Durchführung
- Regelmäßige Messung des frontookzipitalen Kopfumfangs [2]
- Therapie [7]
- Indikation: Ventrikelindex (VI) ≥4 mm über dem 97. Perzentil
- Ziel: Reduktion des intraventrikulären Drucks durch Liquorentnahme oder -ableitung
- Mögliche Maßnahmen
- Lumbalpunktionen
- Externe Ventrikeldrainage
- Anlage und Punktion eines Liquorreservoirs
- Ventrikulosubgalealer Shunt (VSG-Shunt)
- Ventrikuloperitonealer Shunt (VP-Shunt)
- Verlauf [2]
- In 50% der Fälle Stillstand oder Rückbildung
- In 50% der Fälle Progredienz
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Letalität: Je nach Schweregrad zwischen 4 und 18% (bzw. bis 40% ) [6]
- Neurologische Folgeschäden: Je nach Schweregrad zwischen 15 und 50% (bzw. bis 75% ) [6][13]
- Epilepsie
- Motorische und/oder kognitive Entwicklungsstörung
- Seh- und Hörschäden
Prognose der IVH bei Frühgeborenen | ||
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Letalität (%) [6] | Neurologische Folgeschäden (%) [13] | |
Grad I | 4 | 15 |
Grad II | 10 | 25 |
Grad III | 18 | 50 |
Hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms | 40 | 75 |
Eine hämorrhagische Infarzierung des Hirnparenchyms führt in bis zu 75% der Fälle zu neurologischen Folgeschäden!
Prävention
Prävention der IVH bei Frühgeborenen [3][8][14] | ||
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Zeitpunkt | Ziele | Maßnahmen |
Pränatal |
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Postnatal |
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Die pränatale Gabe von Glucocorticoiden reduziert das Risiko für eine IVH!
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- P52.-: Intrakranielle nichttraumatische Blutung beim Fetus und Neugeborenen
- Inkl.: Intrakranielle Blutung durch Anoxie oder Hypoxie
- Exkl.: Intrakranielle Blutung durch: Geburtsverletzung (P10.‑), sonstige Verletzung (S06.‑), Verletzung der Mutter (P00.5)
- P52.0: Intraventrikuläre (nichttraumatische) Blutung 1. Grades beim Fetus und Neugeborenen
- Subependymblutung (ohne intraventrikuläre Ausdehnung)
- P52.1: Intraventrikuläre (nichttraumatische) Blutung 2. Grades beim Fetus und Neugeborenen
- Subependymblutung mit intraventrikulärer Ausdehnung
- P52.2: Intraventrikuläre (nichttraumatische) Blutung 3. Grades beim Fetus und Neugeborenen
- Subependymblutung mit intraventrikulärer und intrazerebraler Ausdehnung gleichzeitig
- P52.3: Nicht näher bezeichnete intraventrikuläre (nichttraumatische) Blutung beim Fetus und Neugeborenen
- P52.4: Intrazerebrale (nichttraumatische) Blutung beim Fetus und Neugeborenen
- P52.5: Subarachnoidalblutung (nichttraumatisch) beim Fetus und Neugeborenen
- P52.6: Kleinhirnblutung (nichttraumatisch) und Blutung in die Fossa cranii posterior beim Fetus und Neugeborenen
- P52.8: Sonstige intrakranielle (nichttraumatische) Blutungen beim Fetus und Neugeborenen
- P52.9: Intrakranielle (nichttraumatische) Blutung beim Fetus und Neugeborenen, nicht näher bezeichnet
- P91.-: Sonstige zerebrale Störungen beim Neugeborenen
- P91.7: Erworbener Hydrozephalus beim Neugeborenen
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.