Zusammenfassung
Das Atemnotsyndrom des Neugeborenen beruht auf einem Surfactant-Mangel der unreifen Lunge und betrifft überwiegend Frühgeborene. Ein niedriges Gestationsalter gilt als wichtigster Risikofaktor.
Surfactant setzt die Oberflächenspannung der Alveolen herab. Bei einem unreifebedingten Mangel kommt es zum Kollaps der Alveolen und damit zu einer Minderbelüftung der Lungen. Da die Atemarbeit für eine ausreichende Belüftung gesteigert werden muss, zeigt sich klinisch eine Tachydyspnoe mit subkostalen, interkostalen und jugulären Einziehungen, Nasenflügeln, Stöhnen und möglicherweise Zeichen einer Zyanose. Unbehandelt kann das Atemnotsyndrom zu einer zunehmenden Erschöpfung mit globaler respiratorischer Insuffizienz und Herz-Kreislauf-Stillstand führen.
Die Diagnose wird primär klinisch gestellt und kann nach Stabilisierung der respiratorischen Situation radiologisch mittels eines Röntgenbildes des Thorax bestätigt und eingeteilt werden. Die Blutgasanalyse eignet sich zur quantitativen Bewertung und Einschätzung der respiratorischen Situation. Therapeutisch steht zunächst eine nicht-invasive Atemunterstützung mittels eines kontinuierlich positiven Atemwegsdruckes (CPAP) im Vordergrund. Bei zunehmender respiratorischer Insuffizienz können eine intratracheale Applikation von Surfactant und eine invasive maschinelle Beatmung notwendig werden. Präventiv kann die Synthese von Surfactant bei drohender Frühgeburt durch zweimalige präpartale Gabe von Corticosteroiden an die Schwangere induziert werden (sog. RDS-Prophylaxe).
Durch adäquate präventive und therapeutische Maßnahmen liegt die Mortalität des Atemnotsyndroms mittlerweile unter 10%. Als Spätfolge kann insb. bei Frühgeborenen <32 SSW eine bronchopulmonale Dysplasie entstehen.Dieses Kapitel ist CME-zertifiziert. Wenn du die CME-Fragen zu diesem Kapitel erfolgreich beantwortest, erhältst du 2 CME-Punkte (siehe: Tipps & Links)!
Epidemiologie
- Prävalenz
- Ca. 1% aller Neugeborenen (in Deutschland)
- Je unreifer die Frühgeborenen, desto höher die Wahrscheinlichkeit
- 30–50% der Frühgeborenen <32 SSW
- 60–80% der Frühgeborenen <28 SSW
- >90% der Frühgeborenen <24 SSW
Das Atemnotsyndrom gehört bei Frühgeborenen zu den häufigsten Todesursachen während der Neonatalzeit!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Hauptrisikofaktor: Frühgeburtlichkeit
- Strukturelle Unreife der Lunge
- Unreifebedingter Surfactant-Mangel
- Inhibition der Surfactant-Produktion
- Weitere Risikofaktoren
- Primäre Sectio caesarea [1]
- Gestationsdiabetes bzw. maternaler Diabetes mellitus [2]
- Mekoniumaspirationssyndrom [3]
- Perinatale Asphyxie
- Hydrops fetalis
- Genetisch bedingte Lungenerkrankungen
Wichtigster Risikofaktor für die Entstehung eines Atemnotsyndroms ist die Frühgeburtlichkeit!
Pathophysiologie
- Circulus vitiosus des Atemnotsyndroms: Surfactant-Mangel → Erhöhte Oberflächenspannung der Alveolen → Verminderte Entfaltung der Alveolen bei Inspiration und Kollaps der Alveolen bei Exspiration → Minderbelüftung durch Bildung diffuser Atelektasen → Hypoxämie, Hyperkapnie und Azidose → Pulmonale Vasokonstriktion (Euler-Liljestrand-Mechanismus) → Pulmonale Hypertonie mit intrapulmonalem und ggf. kardialem Rechts-links-Shunt (Foramen ovale / Ductus arteriosus botalli), Erhöhung der alveolokapillären Permeabilität → Fibrinöse Exsudation in die Alveolen und Entwicklung hyaliner Membranen → Störung der Surfactant-Synthese → Surfactant-Mangel
Symptomatik
- Zeichen einer vermehrten Atemarbeit
- Nasenflügeln
- Subkostale, interkostale und juguläre Einziehungen
- Tachypnoe
- Stöhnen oder „Knorksen“
- Temperaturinstabilität
- Marmoriertes, blass-graues bis zyanotisches Hautkolorit je nach Ausmaß der respiratorischen Insuffizienz
Die Symptome treten i.d.R. unmittelbar postnatal oder innerhalb der ersten sechs Lebensstunden auf und erreichen ohne Therapie am 2.–3. Lebenstag ihr Maximum!
Das Fehlen einer Zyanose schließt das Vorliegen eines Atemnotsyndroms nicht aus!
Diagnostik
- Inspektion
- Zeichen einer vermehrten Atemarbeit (siehe: Symptome/Klinik)
- Marmoriertes, blass-graues bis zyanotisches Hautkolorit je nach Ausmaß der respiratorischen Insuffizienz
- Auskultation: Seitengleich abgeschwächtes Atemgeräusch
- Präduktale Messung der Sauerstoffsättigung: Pulsoxymetrie an der rechten Hand zur ductusunabhängigen Beurteilung der respiratorischen Anpassung
- Blutgasanalyse (i.d.R. kapillär)
- Hypoxämie (paO2 <40 mmHg oder SpO2 <90%)
- Hyperkapnie (paCO2 >60 mmHg)
- Respiratorische oder gemischt respiratorisch-metabolische Azidose (pH <7,35)
- Röntgen-Thorax: Stadieneinteilung nach Giedion
Radiologische Stadieneinteilung des Atemnotsyndroms beim Neugeborenen | |
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Stadium 1 |
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Stadium 2 |
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Stadium 3 |
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Stadium 4 |
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- Sonografie der Lunge [4][5]
- Mögliche pathologische Befunde
- B-Linien
- Keine A-Linien
- Bilaterale Echogenitätserhöhung
- Subpleurale Konsolidierung des Lungengewebes
- Irreguläre und/oder verdickte pleurale Linie
- Durchführung
- Verwendung eines Linearschallkopfes
- Einteilung jedes Lungenflügels in drei Abschnitte (anterosuperior, anteroinferior, lateral)
- Darstellung jedes Lungenabschnittes in transversaler und longitudinaler Ebene
- Vergabe von 0–3 Punkten für jeden Abschnitt (Gesamtscore 0–18)
- 0 = Nur A-Linien sichtbar
- 1 = ≥3 B-Linien sichtbar, gut voneinander abgrenzbar
- 2 = Multiple B-Linien, kaum voneinander abgrenzbar
- 3 = Ausgeprägte Konsolidierung des Lungengewebes
- Beurteilung
- Insb. bei Frühgeborenen <34. SSW gute Korrelation zum Ausmaß der Oxygenierungsstörung
- Gesamtscore ≥4: Erhöhte Wahrscheinlichkeit für erforderliche Surfactant-Applikation
- Mögliche pathologische Befunde
- Nicht mehr empfohlen: Pränatale Fruchtwasseruntersuchung zur Bestimmung des Lecithin/Sphingomyelin-Quotienten (L/S-Quotient oder -Ratio)
Das Atemnotsyndrom ist eine klinische Diagnose, die nach respiratorischer Stabilisierung radiologisch bestätigt und eingeteilt werden kann!
Aufgrund der noch vorhandenen Lungenflüssigkeit ist die radiologische Klassifizierung in den ersten sechs Lebensstunden noch unsicher!
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnosen bei Neugeborenen mit respiratorischer Störung [6][7][8] | |||||
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Diagnose | Risikofaktoren | Pathophysiologie | Befunde | Therapie & Verlauf | |
Transitorische Tachypnoe |
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Atemnotsyndrom (ANS) |
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Mekoniumaspirationssyndrom (MAS) |
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Neonataler Pneumothorax |
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Lungenhypoplasie |
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Kongenitale Zwerchfellhernie [9][10] |
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AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Symptomatische Therapie
- Minimal Handling
- Nicht-invasive Atemunterstützung durch kontinuierlich positiven Atemwegsdruck (CPAP) zur Verhinderung eines Kollapses der terminalen Sakkuli
- Indikation: Zeichen der vermehrten Atemarbeit und/oder Hypoxämie
- Initial angestrebter PEEP: Ca. 5 cmH2O
- Atemunterstützung i.d.R. über Nasenmaske oder binasales CPAP-System („Prongs“)
- Bei fehlendem/unzureichendem Atemantrieb: Ggf. nasale intermittierende positive Druckventilation (NIPPV) mit
- Atemfrequenz 30–60/min
- Inspiratorischem Spitzendruck 20–25 cmH2O
- Sauerstoffbeimischung zur Inspirationsluft
- Indikation: Bei unzureichendem Sauerstoffsättigungsanstieg trotz CPAP
- Ziel-SpO2: 90–95%
- Beginn bei Frühgeborenen [11]
- Anpassung anhand vorgegebener spO2-Zielwerte (siehe: Zielvorgaben der Sauerstoffsättigung im Kreißsaal)
- Aufgrund der Sauerstofftoxizität höhere spO2-Werte unter Sauerstoffbeimischung unbedingt vermeiden!
Zur Vermeidung unerwünschter Folgen durch Sauerstofftoxizität sollte bei Frühgeborenen unter laufender Sauerstoffbeimischung ein SpO2 von 90–95% angestrebt und nicht überschritten werden!
- Intubation und invasive Beatmung
- Indikation: Bei respiratorischem Versagen mit Hypoxämie, Hyperkapnie und Azidose
- Einheitliche Grenzen der Blutgaswerte als Indikation zur Intubation sind bislang nicht definiert
- Intubation i.d.R. nasotracheal, seltener orotracheal
- Beatmungsformen
- Synchronisierte intermittierende mandatorische Ventilation (SIMV) als konventionelle Beatmungsform
- Hochfrequenzoszillationsbeatmung (HFO) als alternative Beatmungsform
- Indikation: Bei respiratorischem Versagen mit Hypoxämie, Hyperkapnie und Azidose
Kausale Therapie
- Intratracheale Applikation von Surfactant[12]
- Indikation: Unzureichende respiratorische Stabilisierung durch nicht-invasive oder invasive Beatmungsformen noch im Kreißsaal
- Bei Frühgeborenen <26 SSW spätestens ab FiO2 ≥30%
- Bei Frühgeborenen 26–32 SSW spätestens ab FiO2 ≥40%
- Bei Frühgeborenen >32 SSW spätestens ab FiO2 ≥50%
- Insb. bei Frühgeborenen <27 SSW führt eine frühe Therapie (<60 Minuten postnatal) zu einer deutlichen Reduktion von Mortalität und Komplikationsrate
- Präparate
- Poractant alfa [7][13]
- Bovactant [7][14]
- Applikationstechniken
- Bei intubierten Neugeborenen mithilfe einer dünnen Magensonde über den Tubus
- INSURE-Technik (INtubation, SURfactant, Extubation)
- LISA-Technik (Less invasive Surfactant Administration)
- Handlungsempfehlung zur Beatmung während und nach der Applikation von Surfactant
- Möglichst kurze Unterbrechung der Atemunterstützung
- Vorübergehende Erhöhung des Beatmungsdrucks zur optimalen Verteilung des Surfactants
- Bei gutem Ansprechen rasche Reduktion des Beatmungsdrucks und der Sauerstoffbeimischung zur Vermeidung von Spätfolgen durch Barotrauma und Sauerstofftoxizität
- Indikation: Unzureichende respiratorische Stabilisierung durch nicht-invasive oder invasive Beatmungsformen noch im Kreißsaal
Die intratracheale Applikation von Surfactant ist die wichtigste kausale Behandlung des Atemnotsyndroms des Neugeborenen!
Bei fehlendem Ansprechen auf die intratracheale Applikation von Surfactant müssen andere Differenzialdiagnosen in Betracht gezogen werden!
Komplikationen
Bronchopulmonale Dysplasie (BPD)
- Definition: Chronische, potenziell reversible Lungenerkrankung Frühgeborener
- Epidemiologie: Je unreifer das Frühgeborene, umso höher die Inzidenz
- Ätiologie: Multifaktorielle Genese aus Unreife der Lunge, Inflammation, Sauerstofftoxizität, Barotrauma durch invasive Beatmung
- Diagnosekriterium: Zusätzlicher Sauerstoffbedarf (FiO2 >21%) über mind. 28 Tage
Die bronchopulmonale Dysplasie ist die wichtigste vermeidbare Langzeitfolge des Atemnotsyndroms!
Weitere Komplikationen
- Akut
- Pulmonale „Air-Leak-Syndrome“
- Lungenblutung
- Persistierender Ductus arteriosus Botalli (PDA)
- Chronisch
- Pulmonal interstitielles Emphysem (PIE)
- Intraventrikuläre Hämorrhagie (IVH)
- Periventrikuläre Leukomalazie (PVL)
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Letalität: <10%
- Spätfolgen: Bronchopulmonale Dysplasie (BPD)
- Bei Frühgeborenen <32 SSW: Prävalenz ca. 15–20%
Durch die Einführung der Surfactant-Substitution als effektive, sichere und einzige kausale Therapieoption konnte die Sterblichkeit des Atemnotsyndroms um ca. 40% reduziert werden!
Prävention
- Vermeidung der drohenden Frühgeburt
- Möglichst schonende Geburt und optimale Erstversorgung im Kreißsaal
- Pränatale RDS-Prophylaxe der Schwangeren bei drohender Frühgeburt <34 SSW [15][16]
- Reduziert
- Inzidenz und Schwere des Atemnotsyndroms
- Sterblichkeit sowie Auftreten von Hirnblutungen bei Hochrisikofrühgeborenen
- Reduziert
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- P22.-: Atemnot [Respiratory distress] beim Neugeborenen
- Exklusive: Respiratorisches Versagen beim Neugeborenen (P28.5)
- P22.0: Atemnotsyndrom [Respiratory distress syndrome] des Neugeborenen
- P22.1: Transitorische Tachypnoe beim Neugeborenen
- P22.8: Sonstige Atemnot [Respiratory distress] beim Neugeborenen
- P22.9: Atemnot [Respiratory distress] beim Neugeborenen, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.