Zusammenfassung
Die Anaphylaxie bezeichnet eine akute, lebensbedrohliche Überempfindlichkeitsreaktion vom Typ I, die durch eine plötzliche IgE-vermittelte Freisetzung von Histamin aus Mastzellen und Basophilen als Reaktion auf einen eigentlich harmlosen Auslöser (z.B. Lebensmittel, Insektenstiche, Medikamente) bedingt ist. Anaphylaktoide Reaktionen sind dagegen IgE-unabhängig und resultieren aus der direkten Aktivierung von Mastzellen. Zu den typischen Symptomen beider Reaktionen zählen Urtikaria, Angioödem, Stridor, Dyspnoe, Bronchospasmus, Kreislaufversagen, Erbrechen und Durchfall. Die Diagnose wird klinisch gestellt und basiert auf der Kombination aus typischen Symptomen sowie dem Vorhandensein eines bekannten oder vermuteten Auslösers. Der schnellstmögliche Beginn lebensrettender Maßnahmen (Adrenalin i.m., Expositionsstopp) bei Anaphylaxie oder anaphylaktoider Reaktion ist essenziell zur Vermeidung gravierender Komplikationen wie bspw. Atemversagen, Schock oder sogar Tod.
Für den akuten Fall siehe auch: Anaphylaxie - AMBOSS-SOP
Definition
- Anaphylaxie: Akute systemische meist IgE-vermittelte Reaktion vom Soforttyp , die potenziell lebensbedrohlich sein kann
- Anaphylaktoide Reaktion: Nicht-IgE-vermittelte anaphylaktische Reaktion, die sich klinisch jedoch wie eine Anaphylaxie darstellt.
- Anaphylaktischer Schock: Maximalvariante einer anaphylaktischen Reaktion mit Schocksymptomatik bis zum Kreislaufstillstand
Epidemiologie
- Inzidenz: 7–50/100.000 Einwohner jährlich
- Todesfälle: 1–3/1 Mio. Einwohner jährlich
- Geschlechterverteilung
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Häufigste anaphylaxieauslösende Allergene
- Im Kindesalter: Nahrungsmittel ca. 60%, Insektengift ca. 25%, Medikamente ca. 10%
- Bei Erwachsenen: Am häufigsten Insektengift oder Medikamente, dann Nahrungsmittel
Pathophysiologie
- Allergenkontakt bei Anaphylaxie
- Meist: Oral, parenteral oder hämatogen
- Selten: Aerogen oder über Hautkontakt
- Augmentation/Summation
- Insb. körperliche Anstrengung
- Bspw. nahrungsmittelinduzierte anstrengungsgetriggerte Anaphylaxie
- Weitere Faktoren: Stress, Infekt, Alkohol, Medikamente , Exposition gegenüber mehreren Allergenen gleichzeitig
- Insb. körperliche Anstrengung
- Akute Degranulation von Mastzellen und basophilen Granulozyten → Freisetzung verschiedener Botenstoffe (Bspw. Histamin, Leukotriene, Prostaglandine, Tryptase, plättchenaktivierender Faktor, Zytokine und Chemokine)
- Meist: IgE-abhängige anaphylaktische Reaktion
- Selten: IgE-unabhängige anaphylaktische Reaktion: IgG-vermittelte Immunkomplex-Anaphylaxie → Bildung zirkulierender Immunkomplexe (bspw. auf Dextran) → Komplementaktivierung
Symptomatik
Prodromalsymptome
- Juckreiz bzw. Brennen palmar, plantar und/oder genital
- Angstgefühl, Desorientierung
- Metallischer Geschmack im Mund, Kopfschmerzen
Charakteristische Symptome bei Anaphylaxie
- Haut und Schleimhaut: Symptome mit systemischer Ausbreitung
- Gastrointestinaltrakt
- Krampfartige Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Meteorismus
- Stuhldrang, unwillkürliche Defäkation
- Harndrang, unwillkürliche Miktion
- Uteruskrämpfe
- Obere Atemwege
- Kribbeln, Brennen und/oder Juckreiz von Zunge oder Gaumen
- Schwellung von Uvula oder Zunge, kloßige Sprache, Schluckbeschwerden, Hypersalivation
- Inspiratorischer Stridor, Larynxödem bis zum Erstickungstod
- Untere Atemwege
- Bronchiale Obstruktion mit Giemen, verlängertem Exspirium und Tachydyspnoe
- Permeabilitätsstörung → Lungenödem
- Vasokonstriktion mit starker Erhöhung des pulmonalen vaskulären Widerstandes bis Rechtsherzbelastung
- Herz-Kreislauf-System
- Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Schwäche, Schwindel
- Vasodilatation und Permeabilitätsstörung → Flüssigkeitsverlust ins Gewebe → Hämokonzentration und Hypovolämie → Arterielle Hypotonie und Tachykardie
- Arrhythmie und/oder Bradykardie
- Schock, kardiovaskuläres Versagen
- Zentrales Nervensystem
- Verhaltensänderung: Unruhe, Todesängste oder Rückzugsverhalten
- Bei Erwachsenen: „Gefühl drohenden Unheils“
- Bei Kindern: Häufig Ängstlichkeit, ggf. aggressives Verhalten
- Kopfschmerzen
- Bewusstseinsstörung bis zur Bewusstlosigkeit
- Epileptischer Anfall
- Verhaltensänderung: Unruhe, Todesängste oder Rückzugsverhalten
- Letaler Verlauf möglich
- Meist durch Atemwegsobstruktion und/oder kardiovaskuläres Versagen
- Selten durch DIC oder Adrenalinüberdosierung
Kein Symptom ist obligat, eine Anaphylaxie kann sich auch in Form einer uncharakteristischen Symptomatik zeigen!
Beginn und Verlauf der Symptomatik [1]
- Beginn
- I.d.R. akut beginnend
- Primär verzögert
- Verlauf
- Rasches Fortschreiten
- Symptome können gleichzeitig oder nacheinander auftreten und haben keine spezifische Reihenfolge
- Therapierefraktärität möglich
- Protrahierte Reaktion: Persistierende Symptomatik trotz adäquater Therapie
- Biphasische anaphylaktische Reaktion: Erneute Symptomatik 6–24 h nach initial erfolgreicher Therapie
- Spontane Remission auf jeder Stufe möglich
Schweregradeinteilung in Anlehnung an Ring und Messmer [1]
Schweregrad einer anaphylaktischen Reaktion nach klinischer Symptomatik | ||||
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Grad | Haut- und Allgemeinsymptome | Abdominelle Symptome | Respiratorische Symptome | Kardiovaskuläre Symptome |
I | — | — | — | |
II |
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III |
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IV |
Die Schweregradeinteilung einer anaphylaktischen Reaktion erfolgt nach dem jeweils lebensbedrohlichsten Leitsymptom!
Risikofaktoren für Anaphylaxie-Schweregrad III und IV
- Hohes Alter
- Schwere kardiovaskuläre Grunderkrankung
- Nicht- oder teilkontrolliertes Asthma bronchiale
- Medikamente mit Mastzellaktivierung bzw. Leukotrienbildung (bspw. NSAR)
- Mastozytose
- Bei Insektengiftallergie zusätzlich
- Einnahme von Betablockern und ACE-Hemmern
- Körperliche und psychische Belastung
- Erhöhte Serumtryptase
- Bei Nahrungsmittelallergie
- Gleichzeitig vorliegendes allergisches Asthma bronchiale
- Bestimmte Allergene selbst (insb. Erdnuss)
Diagnostik
- Charakteristische Kriterien einer Anaphylaxie [2]
- Anamnese
- Beschreibung des Akutgeschehens, weitere Symptome (bspw. Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen, thorakales Druckgefühl, Sehstörung, Pruritus)
- Erfragen bekannter Allergien oder stattgehabter Reaktionen
- Basisuntersuchung: Prüfung von Lebenszeichen, Puls und Blutdruck, Atmung, Haut und Schleimhaut
- Nach Akutversorgung: Bestimmen von Mediatoren im Blut, insb.Serumtryptase
Differenzialdiagnosen
Wenn die Diagnosekriterien einer Anaphylaxie erfüllt sind, sollte eine entsprechende Therapie unverzüglich eingeleitet werden. Die folgenden Differenzialdiagnosen sollten nur bei Diagnoseunsicherheit oder schlechtem Ansprechen auf die initiale Therapie geprüft werden.
- Multisystemerkrankungen
- Obstruktion der oberen Atemwege
- Atemnot
- Schweres Asthma
- Akute Herzinsuffizienz
- Nicht-kardiogenes Lungenödem
- Lungenembolie
- Spontanpneumothorax
- Aspirationspneumonie
- Panikattacke
- Siehe auch: Differenzialdiagnosen Dyspnoe
- Bewusstlosigkeit: Siehe auch: Synkope
- Hypotension
- Akute NNR-Insuffizienz
- Toxic Shock Syndrome
- Siehe auch: Schock
- Hautausschlag
- Andere allergische Erkrankungen
- VIPom
- Thyreotoxikose
- Arzneimittelexanthem
- Diffuse generalisierte Urtikaria
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Therapie: Sofortmaßnahmen
- Siehe auch: Anaphylaxie - AMBOSS-SOP
- SOFORT: Allergenzufuhr stoppen!
- Beruhigung von Patient (und Eltern)
- Lagerung symptomorientiert: Flachlagerung ist präferiert.
- Bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage
- Bei hämodynamischer Instabilität: Trendelenburg-Lagerung (Beine hoch)
- Bei Atemnot: sitzende oder halbsitzende Position
- Beurteilung des Schweregrades: Erkennen und Behandeln des bedrohlichsten Symptoms
- Gesicherten Zugang schaffen
- Bei Atem- oder Kreislaufbeschwerden sollten schon vorher Adrenalin i.m. und Sauerstoff inh. gegeben werden!
- Bei Herz-Kreislauf-Reaktion bzw. -Stillstand evtl. intraossärer Zugang
Behandlungsschema bei Anaphylaxie | ||
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Sechs Szenarien in Abhängigkeit des Schweregrades | ||
Grad | Leitsymptome | Therapie |
I |
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II–III |
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IV |
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Weiterführende Therapie bei Anaphylaxie
Überwachung
- Bis zur anhaltenden Remission
- Möglichkeit eines biphasischen Verlaufs berücksichtigen
- Bei allen schweren Reaktionen (≥Grad II): Stationäre Überwachung
- Bei Anaphylaxien mit bedrohlicher Allgemeinreaktion: Intensivmedizinische Überwachung
Bei Entlassung
- Anaphylaxie-Notfallset (Adrenalin-Autoinjektor, Antihistaminikum und Glucocorticoid, ggf. Bronchodilatator-Dosieraerosol)
- Indikationen
- Patienten mit systemischer allergischer Reaktion und Asthma bronchiale (auch ohne Anaphylaxie in der Anamnese)
- Zunehmende Schwere der Reaktionen in der Anamnese
- Anamnese anaphylaktischer Reaktionen gegen nicht sicher meidbare Allergene
- Systemische Allergie auf potente Allergene
- Hoher Sensibilisierungsgrad
- Mastozytose (auch ohne bekannte Anaphylaxie)
- Kein Bedarf für ein Notfallset besteht bei sicher meidbaren Allergenen (bspw. Arzneimitteln) und Patienten mit erfolgter Hyposensibilisierung bei Insektengiftallergie
- Indikationen
- Anaphylaxiepass: Auflistung bekannter Allergene
- Notfallplan: Genaues Vorgehen im Notfall inkl. Medikamente
- Anaphylaxie-Schulung
- Vorstellung bei einem Allergologen zur weiteren Abklärung und langfristigen Therapie
Notfallausrüstung zur Behandlung anaphylaktischer Reaktionen in der Praxis
- Stethoskop und Blutdruckmessgerät
- Stauschlauch, Spritzen, Venenverweilkanülen, Infusionsbesteck
- Guedel-Tubus, Beatmungsbeutel, Absaugvorrichtung, Intubationsbesteck
- Medikamente
- Sauerstoff mit Maske/Brille
- Adrenalin zur i.m. Injektion
- H1-Antihistaminika zur i.v. Injektion
- Glucocorticoide zur i.v. Injektion
- Schnell wirksame β2-Sympathomimetika zur Inhalation bzw. i.v. Injektion
- Infusionslösungen
- Ggf. Pulsoximeter und automatisierter externer Defibrillator
In jeder ärztlichen Praxis sollte eine Ausrüstung zur Akuttherapie der Anaphylaxie vorhanden sein! Dies ist umso wichtiger, wenn vor Ort anaphylaxiefördernde Medikamente (insb. Präparate zur Immuntherapie und Chemotherapeutika) verabreicht werden!
Prävention
- Aufklärung
- Symptomerkennung
- Identifikation und Vermeidung von Auslösern
- Kriterien für den Anruf beim Rettungsdienst oder die Rückkehr ins Krankenhaus (z.B. wiederkehrende Anaphylaxie, biphasische anaphylaktische Reaktion)
- Training auch von Freunden und Familie
- Anleitung zum Umgang mit einem Adrenalin-Autoinjektor
- Verschreibung: Anaphylaxie-Notfallset