Zusammenfassung
Die Polymyalgia rheumatica ist eine häufige entzündlich-rheumatische Autoimmunerkrankung. Sie manifestiert sich i.d.R. bei Menschen um die 70 Jahre. Das wesentliche Leitsymptom sind insb. morgens auftretende, bilaterale Schmerzen der Schulter- und/oder Beckenmuskulatur. Häufig kommt es zudem zu Fieber, Abgeschlagenheit oder depressiver Verstimmung. Bei etwa 20% der Betroffenen besteht gleichzeitig eine Riesenzellarteriitis. Laborchemisch finden sich ein deutlich erhöhtes CRP sowie eine stark erhöhte BSG. Differenzialdiagnosen sollten mittels weiterer Labordiagnostik und ggf. Gelenksonografie sowie MRT ausgeschlossen werden. Durch eine Therapie mit Glucocorticoiden bessert sich die Symptomatik typischerweise rasch, innerhalb weniger Wochen kommt es zur Remission – Rezidive sind jedoch häufig. Bei prolongierten Verläufen kann Methotrexat eingesetzt werden.
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Epidemiologie
- Alter: Erstmanifestation ≥50 Jahre, Manifestationsgipfel bei ca. 70 Jahren [1]
- Geschlechterverhältnis: ♀ > ♂ ca. 2–3:1 [2]
- Inzidenz: 13–50/100.000 Personen/Jahr [1][2][3]
- Prävalenz: 60–130/100.000 Personen [2][4]
- Lebenszeitprävalenz [3]
- Frauen: 2,4%
- Männer: 1,7%
Die Polymyalgia rheumatica ist die zweithäufigste entzündlich-rheumatische Erkrankung im Alter und tritt typischerweise bei Personen um die 70 Jahre auf! [5]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Nicht vollständig geklärt
- Begünstigende Faktoren [2]
- Alter ≥50 Jahre
- Weibliches Geschlecht
- Infektionen, z.B. durch Mycoplasma pneumoniae, Parainfluenzaviren, Chlamydophila pneumoniae [6][7][8]
- Genetische Prädisposition, am ehesten bei Polymorphismen von HLA-DR4, HLA-DRB1 [1][2][3]
- Möglicherweise Frühform einer klinisch inapparenten Vaskulitis [5]
Klassifikation
Die Klassifikationskriterien dienen primär Studienzwecken, können aber auch bei der Diagnosestellung unterstützen.
ACR-EULAR-Klassifikationskriterien der Polymyalgia rheumatica von 2012 [9] | ||
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Voraussetzungen |
| |
Kriterien |
| 2 |
| 2 | |
| 1 | |
| 1 | |
Zusatzkriterien nach Gelenksonografie | 1 | |
| 1 | |
Diagnosestellung bei ≥4 Punkten ohne Gelenksonografie oder ≥5 Punkten mit Gelenksonografie |
Symptomatik
- Leitsymptom: Proximal betonte Myalgien mit schmerzbedingter Muskelschwäche [1][2][3][4][10]
- Auftreten: I.d.R. schleichend über 2–3 Monate, seltener akut bis subakut innerhalb weniger Tage [11]
- Lokalisation: I.d.R. symmetrisch [1]
- Schultergürtel (ca. 70–95%)
- Nacken (ca. 50–70%)
- Beckengürtel (ca. 50–70%)
- Schmerzmaximum: Beim Aufwachen und am Morgen
- Begleitend
- Morgensteifigkeit 45–60 min
- Funktionelle Einschränkungen
- Im Verlauf: Kontrakturen, Muskelatrophie
- Gelenkschmerzen, insb. asymmetrisch durch nicht-erosive Arthritis (ca. 50%) [1][4]
- Arthritis der kleinen Gelenke (ca. 30–50%)
-
Arthritis der mittelgroßen Gelenke mit Synovialitis, v.a.
- Sternoklavikulargelenk
- Kniegelenk: U.a. mit Kniegelenkerguss
- Handgelenk: Häufig assoziiert mit Karpaltunnelsyndrom
- Tendosynovitis der Handextensoren
- Konstitutionelle Begleitsymptome (ca. 33%) [1]
- Abgeschlagenheit
- Subfebrile Temperaturen
- Gewichtsverlust
- Nachtschweiß
- Depression
- Symptome der Riesenzellarteriitis , u.a. Kopfschmerzen, Kieferclaudicatio und Sehstörungen [3][4]
Ca. 16–25% der Betroffenen haben zusätzlich eine Riesenzellarteriitis! [3][4]
Diagnostik
Anamnese und körperliche Untersuchung
- Ausführliche Anamnese und Basisuntersuchung zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica
- Palpation der betroffenen Muskulatur: Druckschmerzhaft
- Kraftprüfung der Schulter- und Hüftmuskulatur: Kraftgrade typischerweise unauffällig
- Beweglichkeitsprüfung: Passiv (schmerzbedingt) eingeschränkte Beweglichkeit
- Beweglichkeitsprüfung der Schulter, bspw. Schürzengriff und Nackengriff
- Beweglichkeitsprüfung der Hüfte, bspw. Freiheitsgrade der Hüfte
Objektivierbare Untersuchungsbefunde sind oft weniger eindrücklich, als die Symptomatik und der Leidensdruck der Betroffenen annehmen lassen!
Labordiagnostik
- Entzündungswerte
- I.d.R. BSG↑↑ mit bis >50 mm in der ersten Stunde (Sturzsenkung) [1]
- CRP↑
- Differenzialblutbild: Ggf. Leukozytose, Thrombozytopenie, Anämie bei chronischen Erkrankungen
- Ggf. zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen [2][3][5]
- Ggf. zum Ausschluss von Komorbiditäten [5] : Glucose, Lipide
I.d.R. kann die Diagnose klinisch gestellt werden, ggf. mithilfe der Klassifikationskriterien der Polymyalgia rheumatica!
Auch bei Vorliegen der typischen klinischen Befundkonstellation sollten wichtige Differenzialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica ausgeschlossen werden! [5]
Befunde, die auf andere Diagnosen hinweisen [12]
- Morgensteifigkeit <30 min
- Insb. Schmerzen der peripheren Gelenke
- Ausgeprägte Leukozytose
- Eisenmangelanämie
- Symptome der Riesenzellarteriitis
- Hohes Fieber
- Starker Gewichtsverlust
- Siehe: Differenzialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica
Unklare Diagnosestellung: Ggf. Bildgebung
- Zur Bestätigung der Diagnose in unklaren Fällen: Bspw. bei atypischen klinischen oder laborchemischen Befunden oder fehlendem Ansprechen auf Glucocorticoide
- Arthrosonografie: Schulter, Hüfte, periphere Gelenke [3]
- Weitere [13]
- MRT von Schulter, Hüfte, Wirbelsäule oder Sakroiliakalgelenk [3]
- 18F-FDG PET-CT [14]
- Zum Ausschluss anderer Ursachen, ggf. [5]
Eine Bildgebung ist nur bei atypischen Befunden oder zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen indiziert!
Differenzialdiagnosen
- Rheumatische Erkrankungen
- Orthopädische Erkrankungen
- Neurologische und psychiatrische Erkrankungen
- Weitere Erkrankungen
- Hypothyreose
- Anämie anderer Genese
- Fibromyalgie-Syndrom
- Infektionen, z.B. HIV-Infektion, Tuberkulose
- Malignome, z.B. Multiples Myelom
- Medikamenteninduzierte Myopathie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Management [5]
- Rheumatologische Überweisung bei
- Atypischen klinischen Symptomen
- Alter ≤60 Jahre
- Auftreten von oder hohem Risiko für therapieassoziierte Nebenwirkungen
- Fehlendes Ansprechen auf Glucocorticoide
- Wiederholt Rezidive oder sehr lange medikamentöse Therapie
- Supportive Therapie
- Patientenschulung: Bspw. zu Krankheitsverlauf und Therapie
- Individuelle Übungs- und Sportprogramme
- Zum Erhalt von Muskelmasse und Funktionalität
- Zur Sturzprophylaxe, siehe auch: AMBOSS-Pflegewissen: Sturzprophylaxe
- Ggf. Physiotherapie
- Engmaschige Betreuung nach Diagnosestellung [5]
- Häufigkeit
- 1. Jahr: Alle 4–8 Wochen
- 2. Jahr: Alle 8–12 Wochen sowie bei Rezidiven und Nebenwirkungen
- Bei Bedarf nach Absetzen der Therapie
- Therapiemonitoring: Inkl. klinische und laborchemische Kontrolle von
- Krankheitsaktivität
- Nebenwirkungen der Therapie
- Begleiterkrankungen und Begleitmedikation
- Rezidiven
- Behandlungsdauer
- Häufigkeit
Medikamentös [5]
- 1. Wahl: Orale Glucocorticoide
- Ansprechen: Typischerweise sehr schnell (Diagnosis ex juvantibus) [2]
- Im Verlauf: Schrittweise reduzieren auf individuelle Zieldosis und ausschleichen [15]
- Empfehlungen
- 10 mg/Tag Prednison-Äquivalent innerhalb von 4–8 Wochen
- Anschließend 1 mg alle 4 Wochen reduzieren
- Empfehlungen
- Im Rezidiv : Dosiserhöhung auf Prärezidivdosis
- Erneute Reduktion innerhalb von 4–8 Wochen anstreben
- Bei langfristiger Glucocorticoidtherapie
- Osteoporoseprophylaxe
- Regelmäßige Blutdruck-, Blutzucker- und Blutbildkontrollen
- Impfstatus überprüfen (v.a. Grippe, Pneumokokken, Herpes Zoster)
- Glucocorticoid-einsparende Therapeutika
- Indikation
- Unzureichendes Ansprechen auf Glucocorticoide
- Hohes Risiko für Rezidive bzw. bereits stattgehabte Rezidive
- Risiko für lange Therapiedauer
- Hohes Risiko für Glucocorticoid-induzierte Nebenwirkungen bzw. bereits bestehende Komorbiditäten
- Medikamente
- Methotrexat [16]
- Tocilizumab (Off-Label-Use) [17][18][19]
- Indikation
Alle Personen mit Polymyalgia rheumatica sollen direkt nach Diagnose eine Therapie mit Glucocorticoiden erhalten!
Prognose
- Symptomfreiheit: Meist innerhalb weniger Wochen nach Therapiebeginn
- Krankheitserleben wird bestimmt durch Glucocorticoid-assoziierte Nebenwirkungen
- Vollständige Remission: Meist innerhalb von 6 Monaten bis zu 2 Jahren [20]
- Häufig Glucocorticoideinnahme über mehrere Jahre nötig [15]
- Gehäuft Rezidive: Bis zu 43% innerhalb eines Jahres nach Therapiebeginn [2][21]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M35.-: Sonstige Krankheiten mit Systembeteiligung des Bindegewebes
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
- Exklusive: Polymyalgia rheumatica mit Riesenzellarteriitis (M31.5)
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.
Meditricks
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Polymyalgia rheumatica
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