Zusammenfassung
Extreme Hitzebelastungen, insb. in Form von Hitzewellen, werden in Folge des Klimawandels häufiger und intensiver. Für den menschlichen Körper bedeuten sie eine erhebliche Herausforderung und erhöhen sowohl Morbidität als auch Mortalität. Gerade für Hausärzt:innen, die ihre Patient:innen oft nur in größeren Zeitabständen sehen, ist es daher wichtig, die Gesundheitsrisiken hoher Temperaturen im Blick zu behalten und auf Basis individueller Risikoprofile zu geeigneten Schutzmaßnahmen zu (be‑)raten. Darüber hinaus können Dosisanpassungen von Medikamenten oder weitere therapeutische Maßnahmen notwendig sein. Das Risiko für hitzeassoziierte Gesundheitsstörungen kann auch bspw. durch Änderungen in der Praxisorganisation gesenkt werden.
In diesem Kapitel sind die wichtigsten Informationen für den hausärztlichen Alltag in Kürze zusammengefassst. Eine ausführlichere Darstellung der zugrundeliegenden Wechselwirkungen zwischen planetarer und individueller Gesundheit findet sich im Kapitel Planetary Health – Grundlagen.
Besonders belastende Umweltfaktoren
- Hohe Temperaturen früh im Jahr
- Hohe Temperaturen mit hoher Luftfeuchtigkeit, v.a. bei gleichzeitiger hoher Sonneneinstrahlung und wenig Wind (siehe auch: Energie- und Wärmehaushalt)
- Fehlende Abkühlung in der Nacht (Temperatur sinkt nicht unter 20°C)
- Schnelle Temperaturwechsel
- Zusätzlich bestehende Luftverschmutzung, insb. Belastung durch Ozon
Besondere Aspekte der Anamnese
Vorerkrankungen und biografische Risikofaktoren mit erhöhter Anfälligkeit gegenüber Hitze
Allgemein sollte während Hitzeperioden auf Zeichen einer Dehydratation geachtet werden .
- Vorerkrankungen
- Chronisch
- Hypohidrose bzw. Anhidrose
- Atemwegserkrankungen (insb. COPD, Asthma bronchiale)
- Allergische Erkrankungen
- Chronische Nierenerkrankungen
- Kardiovaskuläre Erkrankungen (insb. Herzinsuffizienz, KHK, arterielle Hypertonie)
- Stoffwechselerkrankungen (insb. Diabetes mellitus)
- Übergewicht, Bewegungsmangel
- Unterernährung
- Neurologische Erkrankungen (insb. Demenz, Parkinson-Syndrom)
- Psychiatrische Erkrankungen (insb. Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, Drogenabhängigkeit )
- Akut
- Fieberhafte Erkrankungen
- Durchfallerkrankungen
- Akute Intoxikationen
- Vigilanzstörungen
- Chronisch
- Zustand nach Operationen und/oder Traumata
- Hypotonie
- Immobilität oder anderweitig erhöhtes Risiko für thromboembolische Ereignisse
- Wundinfektionen
- Verbrennungen
- Strahlenschäden
- Alter: Personen <15 Jahren oder >65 Jahren sind besonders gefährdet
- Geschlecht
- Männer sind durchschnittlich stärker gefährdet
- Frauen sind während einer Schwangerschaft besonders hitzesensibel [4]
- Ausführung besonders belastender Tätigkeiten
- Beruflich: Tätigkeiten im Freien, ggf. ohne adäquaten Sonnenschutz (bspw. Forst- und Bauarbeiten)
- Freizeit: Anstrengende Sportarten oder längere Aktivitäten im Freien (bspw. Fußball, längere/schwierigere Wanderungen)
Medikation und Suchtmittel
Eine Vielzahl von Medikamenten sowie von legalen oder illegalen Drogen kann eine Hitzebelastung verschlimmern. Details zu zahlreichen wichtigen Stoffen sind im Abschnitt Medikamentöse Therapie unter Hitzebelastung dargestellt.
Sozialanamnese
- Wohnort
- Wohnsituation
- Obdachlosigkeit
- Pflegebedürftigkeit
Gesundheitsbeschwerden und Gesundheitsstörungen
Morbidität und Mortalität haben sich in der Vergangenheit an Tagen mit starker oder extremer Hitzebelastung durchschnittlich um ca. 10–15% erhöht . Die konkrete Inzidenz hitzebedingter Gesundheitsstörungen ist jedoch nur sehr schwer abschätzbar, da die Hitzebelastung für den Organismus von zahlreichen Faktoren (bspw. Tätigkeit, Alter, Dauer der Exposition) beeinflusst wird, die oftmals variabel oder nicht (vollständig) bekannt sind. Zudem muss von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden. Grundsätzlich treten hitzeassoziierte Symptome (bspw. Kopfschmerzen) wesentlich häufiger auf als gravierendere Gesundheitsstörungen (bspw. Hitzschlag). Die Mortalität steigt (in Studien) zumeist stärker als die Morbidität . [2][6]
Hitzeassoziierte Symptome [7]
- Abgeschlagenheit, Müdigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit (74%)
- Schlafstörungen (68%)
- Kreislaufbeschwerden, insb. Hypotonie (68%)
- Kopfschmerzen (54%)
- Schwindel (36%)
- Appetitlosigkeit (19%)
- Bewusstseinsstörungen, Verwirrtheit (5%)
- Sonstige Symptome (10%)
Hitzebedingte Gesundheitsstörungen
Für detailliertere Informationen, insb. auch zum therapeutischen Vorgehen, siehe: Hitzschlag und Sonnenstich - AMBOSS-SOP.
Hitzebedingte Exazerbationen vorbestehender Gesundheitsstörungen
- Akute und chronische Nierenerkrankung, Urolithiasis [8]
- COPD (Synergien mit Luftverschmutzung, daher insb. in Innenstädten relevant) [9]
- Kardiovaskuläre Erkrankungen (z.B. Herzinsuffizienz, Myokardinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Schlaganfall) [10]
- Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus [11]
- Zunahme der Morbidität und Mortalität durch psychische Erkrankungen (z.B. affektive Störungen, Demenz, Schizophrenie, Angststörungen) [12]
Anpassungsmöglichkeiten
Bereits durch relativ simple Alltagsmaßnahmen lässt sich das Risiko hitzeassoziierter Notfälle wie Hitzschlag und Sonnenstich verringern. Information und Beratung über entsprechende Maßnahmen sind daher ein sehr effizientes und effektives Mittel. Darüber hinaus beeinflussen zahlreiche Medikamente die Regulation des Wärmehaushalts oder weisen bei Hitze eine veränderte Pharmakokinetik auf, die vermehrt zu unerwünschten Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten führen kann. Bestehende oder geplante Medikationen sollten daher auch vor diesem Hintergrund kritisch geprüft werden. Auch ist zu bedenken, dass Hitze die Haltbarkeit vieler Medikamente beeinträchtigt.
Patientenedukation
Aufklärung über das richtige Verhalten bei Hitze ist wichtig und kann Leben retten. Die Einbeziehung von Angehörigen und die Aufforderung der Patient:innen, auch auf ihre Mitmenschen zu achten, sollte ebenfalls Inhalt der ärztlichen Beratung sein. Hilfreiche Informationsquellen auch zur Weitergabe finden sich im Abschnitt „Patienteninformationen“ sowie unter „Tipps & Links“.
- Vermeidung stärkerer körperlicher Aktivität (etwa in der Zeit von 11 bis 18 Uhr)
- Lüften der Wohnräume morgens und abends/nachts (tagsüber Fenster geschlossen halten)
- Beschattung der Wohnräume (wärmereflektierende Jalousien und Vorhänge, Markisen)
- Kühlende Fußbäder
- Kühlende Lotionen
- Nicht in engen, ungekühlten bzw. unbelüfteten Räumlichkeiten aufhalten (bspw. in der Sonne geparktes Auto)
- Helle, luftige Kleidung tragen
- Trinkmenge erhöhen
- Bevorzugt leichtes und kühles Essen einnehmen, v.a. Obst und Gemüse
Medikamentöse Therapie
Allgemein
Hitze wirkt sich verschiedentlich auf die Wirkung und korrekte Anwendung von Medikamenten aus:
- Gesteigerte Bioverfügbarkeit bzw. Wirkung
- Bei transdermalen therapeutischen Systemen (aufgrund erhöhter Hautperfusion)
- Bei verminderter Leber- und Nierenperfusion
- Ggf. erhöhte Nephrotoxizität (bei verminderter Nierenperfusion)
- Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit für Warnsymptome (bspw. bei Einnahme sedierend wirkender Medikamente), insb. des Durstgefühls (bspw. bei Einnahme trizyklischer Antidepressiva)
- Störungen der zentralen Temperaturregulation und der Wärmeabgabe (durch vermindertes Schwitzen oder verminderte Hautdurchblutung, bspw. bei Einnahme von Anticholinergika)
- Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts (bspw. bei Einnahme von Antidiuretika)
Die UAW risikobehafteter Medikamente müssen eng überwacht und ggf. Dosisanpassungen vorgenommen werden. Je nach Situation und Möglichkeit sollten insb. auch Umstellungen auf andere Substanzen erwogen werden (bspw. anticholinerg wirkende Medikamente möglichst absetzen)!
Spezifisch
Insb. Medikamente mit anticholinerger Wirkung (speziell Antagonismus an muscarinergen Cholinozeptoren des Typs M1) können bei Hitzebelastung ein Risiko darstellen. Antipsychotika und trizyklische Antidepressiva gehören zu den dabei relevantesten Vertretern. Zu Übersichten über die entsprechenden Rezeptoraffinitäten bzw. anticholinergen Nebenwirkungen einzelner Substanzen/Untergruppen siehe:
Veränderte Wirkungen spezifischer Substanzen/Substanzgruppen bei Hitze
Besonders relevante Medikamente bei Hitzebelastung | ||
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Substanzgruppe | Hitzerelevante Wirkungen/Nebenwirkungen | Mögliche Maßnahmen zur Risikoreduktion |
Anticholinergika, Parasympatholytika |
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Trizyklische Antidepressiva |
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Antipsychotika |
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Antiparkinsonika |
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H1-Antihistaminika (1. Gen.) |
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Sympathomimetika, Betablocker |
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Zentrale α2-Agonisten |
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Opioid-Pflaster |
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Carbamazepin, Topiramat, Zonisamid |
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ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorblocker |
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Auswirkungen auf physiologische Schutzmechanismen
Schwächung physioloischer Hitzeschutzmechanismen | ||||
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Schutzmechanismus | Besonders relevante Substanzen | Synergismen | ||
Durstgefühl |
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Schwitzen bzw. zentrale Temperaturregulation | — | |||
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Umverteilung von Blutvolumen in die Peripherie |
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Vigilanz |
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Weitere Einfllussfaktoren | ||||
Hypovolämie-Risiko | ||||
Störungen des Elektrolythaushalts | ||||
Hypoglykämie-Risiko |
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Zudem ist zu beachten, dass sich hohe Temperaturen auf die Bioverfügbarkeit eines Stoffes auswirken können (bspw. bei physiologischer Verminderung der Nierenperfusion zugunsten einer erhöhten kutanen Perfusion ). Umgekehrt kann die (veränderte) Bioverfügbarkeit eines Stoffes auch Einfluss auf die physiologischen Schutzmechanismen haben (bspw. erhöhte Bioverfügbarkeit eines anticholinerg wirkenden Stoffes, dadurch vermindertes Schwitzen). |
Die meisten (Notfall‑)Medikamente, z.B. Antibiotika, Sympathomimetika, Insulin, Analgetika und Sedativa zeigen eine reduzierte Wirksamkeit, wenn die Lagerungstemperatur 25°C überschreitet!
Fiebersenkende Medikamente (Antipyretika) sind bei Hitzschlag wirkungslos und führen stattdessen eher zu einer Verstärkung hitzschlagbedingter Komplikationen! [15]
Weitere mögliche Maßnahmen in der hausärztlichen Praxis
- Abonnieren des Newsletters des Deutschen Wetterdienstes (DWD) über Hitzewarnungen [16] → Begünstigt die Sensibilisierung des Praxisteams, insb. die zeitnahe Weitergabe relevanter Informationen an Risikopatient:innen
- Einführung einer frühjährlichen Teambesprechung zur Planung des Vorgehens bei Hitzewellen [17]
- Festlegung einer verantwortlichen Person für die Planung
- Festlegung eines Triageverfahrens bei Hitzewellen
- Identifikation von Risikopatient:innen
- Schulung der Praxismitarbeitenden
- Sensibilisierung des Personals für den Eigenschutz
- Evaluierung der getroffenen Maßnahmen
- Anpassung der Praxisabläufe, um eine Hitzebelastung der Patient:innen frühzeitig zu erkennen und nach Möglichkeit zu vermeiden
- Angebot spezieller früher und später Sprechzeiten, Schaffung eines kühlen Raumklimas, Bereitstellung von Getränken
- Soweit möglich Vermeidung körperlicher Anstrengung im Rahmen von Diagnostik und Therapie
- Planung von Hausbesuchen zur Präventions- und Verhaltensberatung während Hitzewellen
- In Hitzewellen Sicherstellung täglicher Besuche oder Anrufe [18]
- Beachtung der Lagerungsbedingungen von Medikamenten [19][20]
- Temperatur an den Lagerorten regelmäßig bzw. kontinuierlich überprüfen
- Ggf. vor UV-Licht schützen
- Bei Sprays Temperaturen über ca. 50°C vermeiden (Explosionsgefahr)
- Hitze-empfindliche Medikamente nach starkem Hitzestress bzw. generell mind. einmal im Jahr ersetzen
Bei Fragen oder Unklarheiten zu Lagerungsbedingungen von Medikamenten sollte immer Rücksprache mit der beliefernden Apotheke gehalten werden!
Studientelegramme zum Thema
- Studientelegramm 296-2024-1/3: Salt 'n' Weather: Hyponatriämien und globale Erwärmung
- Studientelegramm 226-2022-3/3: It’s getting hot in here: Einfluss von Hitze auf die Mortalität
- Studientelegramm 224-2022-1/3: Hitzerekorde und Waldbrände: Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels
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AMBOSS-Podcast zum Thema
7 Studien im Überblick: Infos zu Lipoprotein(a), Wochenendsport und Co. (Februar 2025)
Klimawandel und Gesundheit (2) – Hitze (August 2021)
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