Zusammenfassung
Thalassämien bezeichnen eine heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen, die sich durch eine reduzierte oder fehlende Synthese bestimmter Globinketten definieren. Je nach betroffenen Globin-Genen werden insb. α- und β-Thalassämien unterschieden. Je nach Genotyp variiert die Klinik zwischen asymptomatischen, schwerwiegenden und auch letalen Verläufen. Leitsymptom ist die mikrozytäre hypochrome Anämie. Durch eine gesteigerte Erythropoese kommt es unbehandelt zu einer extramedullären Blutbildung, einer Hepatosplenomegalie und Wachstumsstörungen.
Bei den α-Thalassämien werden die Minorform (kaum Symptome), die HbH-Krankheit (milde bis moderate Symptome) und das Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom (schwere Symptomatik, i.d.R. perinatales Versterben) unterschieden. Je nach klinischem Bild erfolgt die Therapie wie bei den β-Thalassämien.
Bei den β-Thalassämien wird die Minorform (kaum Symptome) von der homozygoten Majorform unterschieden. Letztere zeigt sich unbehandelt bereits im Kindesalter mit schweren Verläufen. Die Therapie erfolgt symptomatisch durch Transfusionen, wobei durch die Gabe von Eisenchelatbildnern (z.B. Deferoxamin) versucht wird, die lebenslimitierenden Folgekomplikationen der sekundären Eisenüberladung abzuschwächen. Eine kausale Therapie ist durch eine Stammzelltransplantation oder experimentell durch eine Gentherapie möglich.
Definition
Wichtigste Formen
- α-Thalassämie: Genetische Mutation(en) mit reduzierter oder fehlender Synthese von α-Globinketten
- β-Thalassämie: Genetische Mutation(en) mit reduzierter oder fehlender Synthese von β-Globinketten
Weitere Thalassämie-Formen
- Mutationen anderer Globin-Gene: γ-, δ- , δβ- und εγδβ-Thalassämie
- Interaktionsformen: Thalassämie-Form plus weitere Hämoglobinopathie
- Insb. mit Sichelzellanämie, dann als Sichelzellkrankheit HbSβ-Thal bezeichnet
Bei Thalassämien liegt eine quantitative Störung der Globinketten-Synthese vor, während bei Hämoglobinopathien pathologisch veränderte Globinketten produziert werden!
Epidemiologie
- Global [1][2]
- Schätzungen für den Bevölkerungsanteil von Trägern einer Thalassämie-Genvariante reichen von ca. 5% bis ca. 25%
- Ca. 60.000 schwer betroffene Neugeborene pro Jahr weltweit
- Deutschland [3]
- Ca. 300.000 Träger einer der Thalassämie-Genvarianten
- Betroffen sind hauptsächlich Menschen mit Abstammung aus Ländern mit hoher Thalassämie-Prävalenz
- Geografische Verbreitung [4][5]
- Endemisch in den Malaria-Gebieten Südostasiens, Indiens, des Mittleren Ostens und Afrikas
- β-Thalassämie: Zusätzlich auch gehäuft im Mittelmeerraum
- Zunehmende Verbreitung auch in nicht-endemischen Regionen (durch globale Migrationsbewegungen) [4]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Allgemein
- Erbgang: Bis auf seltene Ausnahmen autosomal-rezessiv
- Mutationsformen [6]
- Deletionsformen: Partielle oder vollständige Deletionsmutationen eines oder mehrerer Globin-Gene mit Verlust des betroffenen Gens/der betroffenen Gene
- Häufigste Ursache der α-Thalassämien
- Nicht-Deletionsformen: Punktmutationen auf einem oder mehreren Globin-Genen, die zur Inaktivierung des betroffenen Gens/der betroffenen Gene führen
- Häufigste Ursache der β-Thalassämien
- Häufige Nicht-Deletionsform der α-Thalassämie: Hb Constant Spring
- Bei Heterozygotie: Asymptomatisch, ggf. reduziertes MCV
- Bei Homozygotie: Symptomatisch mit leichter hämolytischer Anämie und Splenomegalie
- Deletionsformen: Partielle oder vollständige Deletionsmutationen eines oder mehrerer Globin-Gene mit Verlust des betroffenen Gens/der betroffenen Gene
- Entsprechung von Genotyp und Phänotyp: Zusammenwirken komplex und nicht immer auseinander abzuleiten!
- Vielzahl verschiedener Mutationen und Kombinationsformen möglich
- Interaktionen mit anderen Hämoglobinopathien (bspw. mit der Sichelzellanämie) beeinflussen klinisches Bild mitunter stark
- Unterteilung erfolgt klinisch in Minor-, Intermedia- oder Majorform bzw. in transfusionsabhängige oder nicht-transfusionsabhängige Thalassämie
α-Thalassämien [4][5]
Die α-Ketten werden durch zwei Genloci kodiert, sodass insg. vier Globin-Gene vorliegen. Der Ausprägungsgrad der α-Thalassämie reicht je nach Anzahl der betroffenen Gene von leicht (eine Kopie betroffen) bis sehr schwer (alle vier Kopien betroffen).
- Schreibweise [5]
- α repräsentiert ein gesundes Allel, „/“ trennt die beiden Chromosomen → (α α / α α) entspricht dem Wildtyp ohne α-Thalassämie
- – steht für eine Deletion → (– α / α α) entspricht dem Genotyp mit Deletion eines α-Ketten-Gens
- T oder ND steht für ein mutiertes Allel, das funktionell inaktiv ist → (αT α / α α) entspricht dem Genotyp mit Inaktivierung eines α-Ketten-Gens (eher seltener Auslöser)
- α+-Thalassämie: Ein Genlocus betroffen, bspw. (– α / α α)
- α0-Thalassämie: Beide Loci eines Chromosoms betroffen, bspw. (– – / α α) oder (αT αT / α α)
- α-Thalassaemia minima
- Genotyp: Defekt eines Gens, bspw. heterozygote α+-Thalassämie (– α / α α) oder (αT α / α α)
- Klinik: Asymptomatisch (siehe für Details: Klinik der Thalassämien)
- α-Thalassaemia minor
- Genotyp: Defekt von zwei Genen, bspw. heterozygote α0-Thalassämie (‒ ‒ / α α) oder (seltener) homozygote α+-Thalassämie (– α / – α)
- Klinik: Asymptomatisch (siehe für Details: Klinik der Thalassämien)
- HbH-Krankheit
- Genotyp: Defekt von drei Genen, bspw. Compound-heterozygote α-Thalassämie (– α / – –) oder (seltener) (αT α / – –)
- Resultat: Bildung pathologischer, instabiler Hämoglobin-Moleküle (HbH), bei denen der Globinanteil aus vier β-Ketten (sog. β-Tetramere, β4) besteht
- Klinik: Unterschiedlich schwere Symptomatik (siehe für Details: Klinik der α-Thalassämien)
- Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom
- Genotyp: Defekt von vier Genen bspw. homozygote α0-Thalassämie (– – / – –)
- Folge: Fetale Bildung pathologischer extrem O2-affiner Hämoglobin-Moleküle (Hb Barts, γ4)
- Klinik: Schwere Symptomatik (siehe für Details: Klinik der α-Thalassämien)
β-Thalassämien [5]
Die β-Ketten des Hämoglobins werden durch einen Genlocus kodiert, sodass insg. 2 Globin-Gene vorliegen.
- Schreibweise [5]
- β repräsentiert ein gesundes Allel, „/“ trennt die beiden Chromosome → (β / β) entspricht dem Wildtyp ohne β-Thalassämie
- β0 steht für eine Mutation mit komplettem Funktionsverlust
- β+ steht für Mutationen mit variabler Restfunktion
- β-Thalassaemia minor
- Genotyp: Defekt eines Gens = heterozygote β-Thalassämie
- (β / β0) oder (β / β+)
- Klinik: Milde bis fehlende Symptomatik (siehe für Details: Klinik der β-Thalassämien)
- Genotyp: Defekt eines Gens = heterozygote β-Thalassämie
- β-Thalassaemia intermedia
- Genotyp: Homozygote oder gemischt-heterozygote β-Thalassämie mit zusätzlichem genetischem Faktor, der Symptomatik abschwächt
- (β+ / β+) oder (seltener) (β+ / β0)
- Klinik: Mittelschwere Symptomatik (siehe für Details: Klinik der β-Thalassämien)
- Genotyp: Homozygote oder gemischt-heterozygote β-Thalassämie mit zusätzlichem genetischem Faktor, der Symptomatik abschwächt
- β-Thalassaemia major
- Genotyp: Defekt beider Gene = homozygote oder Compound-heterozygote β-Thalassämie
- (β0 / β0) oder (seltener) (β+ / β0)
- Folge: Stark gesteigerte Produktion fetalen Hämoglobins (HbF)
- Klinik: Schwere Symptomatik (siehe für Details: Klinik der β-Thalassämien)
- Genotyp: Defekt beider Gene = homozygote oder Compound-heterozygote β-Thalassämie
Klassifikation
Neben der Unterteilung der Thalassämie-Formen in Minor-, Intermedia- oder Majorform (siehe: Thalassämie - Ätiologie) erfolgt oft eine therapiezentrierte Unterteilung:
- Transfusionsabhängige Thalassämie (TDT): Schwere Formen, die ohne regelmäßige Transfusionstherapie mit schweren Komplikationen und hoher Mortalität verbunden sind [7]
- Beispiele: β-Thalassaemia major, schwere Formen der HbH-Krankheit oder schwere Formen der HbE-β-Thalassämie sowie überlebende Patienten mit Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom (sehr selten)
- Nicht-transfusionsabhängige Thalassämie (NTDT): Milde und moderate Formen, die keiner oder keiner regelmäßigen Transfusionstherapie bedürfen [8]
- Beispiele: β-Thalassaemia intermedia , milde und moderate Formen der HbH Krankheit sowie der HbE-β-Thalassämie
Pathophysiologie
Physiologische Grundlagen
- Hämoglobin: Tetramer aus vier Globinen, die jeweils ein Häm-Molekül gebunden haben
- Das Tetramer kann sich aus verschiedenen Globinen (mit griechischen Buchstaben bezeichnet: α, β, γ, δ, ε, ζ) zusammensetzen, daraus ergeben sich die verschiedenen Hämoglobintypen
- Hämoglobine in der fetalen Hämatopoese: Überwiegend HbF (α2γ2)
- Hämoglobine in der adulten Hämatopoese: >95% HbA0 (α2β2) und <3% HbA2 (α2δ2)
- Für mehr Details siehe: Hämoglobintypen
Pathologische Vorgänge bei Thalassämien
Veränderte Anteile der Hämoglobintypen [2]
Durch Mutationen der globinkodierenden Gene kommt es zu einer unzureichenden oder fehlerhaften Bildung einer Globin-Fraktion. Kompensatorisch wird die Bildung der übrigen Globine gesteigert und es resultieren veränderte Anteile der Hämoglobintypen.
- α-Thalassämie: Störung der α-Globinketten-Synthese mit
- β-Thalassämie: Störung der β-Globinketten-Synthese mit
Beim Erwachsenen liegt normalerweise hauptsächlich HbA0 (α2β2) vor. Bei der Thalassämie ändern sich die Anteile der Hämoglobintypen!
Entstehung einer mikrozytären Anämie [2]
Die übermäßig gebildeten Globinketten präzipitieren in der Zellmembran der Erythrozyten (bzw. ihrer Vorläuferzellen) und verändern deren Haltbarkeit.
- Oxidativer Stress und erhöhte Fragilität der Zellmembran
- Zerfall schon während der Erythropoese → Ineffektive Erythropoese → Stimulus für extramedulläre Blutbildung
- Im Knochenmark: Osteoporose, Knochendeformitäten, Zerstörung von Knochenstruktur
- In Leber und Milz: Hepatosplenomegalie
- Vermehrte Hämolyse
- Zerfall schon während der Erythropoese → Ineffektive Erythropoese → Stimulus für extramedulläre Blutbildung
- Verminderte Flexibilität der Erythrozytenmembran → Vermehrter Abbau in der Milz (→ Splenomegalie)
Pathophysiologische Reaktionen auf die Anämie
- Erhöhte Sekretion von Erythropoetin (EPO) in den Nieren → Weitere Verstärkung der ineffektiven Erythropoese und der extramedullären Blutbildung
- Suppression von Hepcidin → Erhöhte Eisenresorption im Darm → Verstärkte Eisenüberladung (sekundäre Hämochromatose)
Symptomatik
Allgemein
- Leitsymptome
- Mikrozytäre Anämie (ggf. reaktiv gesteigerte Erythropoese mit extramedullärer Blutbildung)
- Hämolyse
- Hepatosplenomegalie
- Zusätzlich ggf. therapieassoziierte Komplikationen (siehe hierzu: Thalassämie - Komplikationen)
- Ausprägung der Symptome: Abhängig von Genotyp und ggf. vorhandenen modulierenden Faktoren, daher sehr variabel
Klinik der α-Thalassämien [2][4][9][10]
- α-Thalassaemia minima: Klinisch und laborchemisch unauffällig
- α-Thalassaemia minor: Leichte Anämie, Hb gering erniedrigt
- HbH-Krankheit (α-Thalassaemia intermedia) : Leichte bis mittelschwere Anämie, i.d.R. Hb 7–10 g/dL, mit variabler Klinik
- Selten transfusionsbedürftig
- Meist Entwicklung einer Hepatosplenomegalie und eines milden Ikterus
- Normale Lebenserwartung
- Hämolytische Krisen durch zusätzliche Faktoren wie Noxen, Schwangerschaft oder virale Infekte
- Teils Spätkomplikationen, insb. Knochenveränderungen
- Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom (α-Thalassaemia major) : Schwerste Anämie, fetaler Hb i.d.R. Hb 3–8 g/dL, unbehandelt bereits intrauterin oder unmittelbar postnatal tödlich
- Hydrops fetalis, schwere Hypoxie, Aszites, massive Hepatosplenomegalie, häufig Herz- und Skelettfehlbildungen
- Selten bei bereits pränatal begonnener intrauteriner Bluttransfusion Überleben mit schwerer transfusionsbedürftiger Thalassämie möglich [11]
- Zusätzlich i.d.R. schwere Schwangerschaftskomplikationen der Mutter
- Präeklampsie, Polyhydramnion, schwere peripartale Blutungen, Geburtsverletzungen und Sepsis
- Hochrisikoschwangerschaft mit Indikation zur pränataldiagnostischen Beratung
Klinik der β-Thalassämien [2]
- β-Thalassaemia minor
- Meist asymptomatisch
- Selten hämolytische Anämie mit leichter Splenomegalie
- β-Thalassaemia intermedia: Mittelschwere Anämie mit variabler Klinik, Hb i.d.R. 8–10 g/dL
- Häufig initial asymptomatisch und nicht transfusionsbedürftig
- Oft im Verlauf Verschlechterung mit klinischem Bild der β-Thalassaemia major, Symptombeginn variabel
- Unbehandelt häufig Komplikationen wie Knochenveränderungen
- β-Thalassaemia major: Vollbild mit schwerer, transfusionsbedürftiger hämolytischer Anämie
- Symptombeginn i.d.R. im 1. Lebensjahr
- Symptome einer schweren Anämie mit Blässe, Abgeschlagenheit, Infektanfälligkeit
- Hepatosplenomegalie, Ikterus
- Unbehandelt mit Wachstums- und Entwicklungsstörungen sowie Knochendeformierungen (z.B. sichtbar als Facies thalassaemica mit hoher Stirn, Prominenz von Jochbein und Oberkiefer)
- Sekundäre Komplikationen, insb. transfusionsbedingte Eisenüberladung mit Symptomen der Hämochromatose
- Siehe auch: Komplikationen der Thalassämie
Diagnostik
Anamnese und körperliche Untersuchung [5]
- Anamnese: Fokus auf
- Familienanamnese: Bekannte Fälle von Thalassämie-Erkrankung oder -Trägerstatus?
- Abstammung aus Land mit hoher Thalassämie-Prävalenz?
- Hinweise auf Thalassämie-Symptomatik
- Vorbekannte mikrozytäre Anämie?
- Anamnestische Hinweise einer Anämie?
- Geschichte von Wachstums- und/oder Entwicklungsverzögerung?
- Körperliche Untersuchung: Fokus auf
- Symptome einer Anämie
- Folgeerscheinungen
- Wachstums- und Entwicklungsstörungen
- Hepatosplenomegalie
- Knochendeformierungen
- Siehe auch: Klinik der Thalassämien
Labordiagnostik
Hämatologische Basisdiagnostik [5][8][10][12][13]
- Ziel: Anämiediagnostik zur genaueren Einordnung der Anämieform und Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen (insb. Eisenmangelanämie)
- Siehe auch: Diagnostik der hypochromen mikrozytären Anämien
- Blutbild: Hypochrome mikrozytäre Anämie, d.h. Hb↓, MCV↓, MCH↓, Erythrozytenzahl↑, Retikulozytenzahl↑, RDW normal bei Minor-Formen
- Unterschiedlich starke Abweichungen, bei Minorformen ggf. komplett unauffällig
- Ggf. erweiterte Erythrozyten-Indizes, bspw. Mentzer-Index [14][15]
- Eisenstatus
- Ferritin ↔︎︎ bzw. ↑
- Eisen ↔︎︎ bzw. ↑
- Transferrin-Sättigung ↔︎︎ bzw. ↑
- Hämolysezeichen: Haptoglobin↓ , LDH↑, indirektes Bilirubin↑, Retikulozyten↑
- Blutausstrich: Abnorme Erythrozytenmorphologie , bspw.
Hämoglobinanalyse [10][13][16][17]
- Ziel: Qualitative und quantitative Bestimmung der Hämoglobin-Zusammensetzung
- Limitationen: Minima- und Minorformen der α-Thalassämien sind durch Hämoglobinanalysen nicht sicher diagnostizierbar → DNA-Analyse zur Diagnosesicherung!
- Methoden: Kombination verschiedener Analyseverfahren, insb. High Performance Liquid Chromatography und Hb-Elektrophorese
Physiologisch | Pathologische Veränderungen | ||||
---|---|---|---|---|---|
Hämoglobin | Erwachsene | Säuglinge | Hb-Barts-Hydrops-fetalis (α-Thalassaemia major) | ||
HbA0 (α2β2) | >95% | ∼20% | 0% | ↓↓ | ↓↓ |
HbA2 (α2δ2) | <3% | <0,5% | normal bis ↑ | ↓↓ | 0% |
HbF (α2γ2) | <1% | ∼80% | ↑↑↑ | - | - |
Pathologische Hämoglobine: HbH (β4) und Hb Barts (γ4) | 0% | 0% | 0% | β4↑↑↑ γ4↑ bei Neugeborenen | β4↑ γ4↑↑↑ |
DNA-Analyse [10][13][17]
- Ziel: Identifizierung der zugrunde liegenden Mutation
- Methoden: PCR-basierte Verfahren oder DNA-Sequenzierung von Globin-Genen
Weitere
- Monitoring von Organschäden, u.a.
- Leber
- Bestimmung der Eisenkonzentration mittels MRT , Leberbiopsie oder Leber-Suszeptometrie (SQUID-Biomagnetometer)
- Bestimmung von Leberfunktionsparametern
- Herz
- Kardio-MRT
- Funktionsdiagnostik: EKG und Langzeit-EKG, TTE/TEE
- Siehe hierzu auch: Aufnahmestatus und Verlaufsdiagnostik bei β-Thalassämie major und intermedia
- Leber
- Bildgebung
- Stellenwert: Kein routinemäßiger Bestandteil der Diagnostik, aber ggf. auffällige Zufallsbefunde
- Röntgen-Diagnostik: Erythropoetische Hyperplasie mit Erweiterung der Markräume
- Im Schädel/Gesicht charakteristisches Bild des sog. Bürstenschädels
- Ggf. genetische Beratung und Pränataldiagnostik
Aufnahmestatus und Verlaufsdiagnostik bei β-Thalassaemia major und intermedia [5][18]
Die folgenden Empfehlungen sind insb. für β-Thalassaemia major und intermedia formuliert. Seltene Fälle von überlebenden Patienten mit Hb-Barts-Hydrops-fetalis oder mit schwerer HbH-Krankheit, die eine regelmäßige Transfusions- und Chelattherapie erhalten, bedürfen aber einem ebenso engmaschigen Monitoring.
Nach Diagnosestellung sind eine Reihe regelmäßiger Untersuchungen angezeigt. Die Untersuchungen sollten gemeinsam mit der individuellen Therapieplanung in einem Thalassämie-Expertenzentrum erfolgen.
- Ziele
- Erheben des Ausgangsstatus bei Diagnosestellung
- Früherkennung von im Verlauf auftretenden Komplikationen
- Identifikation des richtigen Zeitpunktes zum Start einer Transfusionstherapie
- Kontrolle des Therapieerfolgs und Monitoring von Nebenwirkungen
Empfohlene Untersuchung | |
---|---|
Labor |
|
Kindliche Entwicklung |
|
Bildgebung |
|
Chelatbildnertoxizität |
Differenzialdiagnosen
Die Differenzialdiagnostik der Thalassämie umfasst andere Ursachen einer hypochromen mikrozytären Anämie, insb.
- Eisenmangelanämie
- Angeborene sideroblastische Anämie
- Siehe auch: Diagnostik der Anämie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Bei den minor- und minima-Formen ist i.d.R. keine Therapie nötig. Bei den übrigen Formen sind je nach klinischer Situation regelmäßige Erythrozyten-Transfusionen und ggf. der Einsatz von Eisenchelatbildnern indiziert.
Therapie der α-Thalassämien [5][8][18]
- Minima- und Minorformen: I.d.R. keine Therapie notwendig
- HbH-Krankheit
- Ggf. intermittierende Transfusion von Erythrozytenkonzentraten
- Selten bei schweren Verlaufsformen auch regelmäßigere Transfusionen mit Notwendigkeit zu Chelattherapie und Splenektomie (durch Splenomegalie)
- Hb-Barts-Hydrops-fetalis-Syndrom
- I.d.R. keine, da meist Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch erfolgt oder die Neugeborenen perinatal versterben
- Einzelfälle: Überleben des Fötus durch intrauterine Bluttransfusionen und postnatale Therapie analog zur Therapie der β-Thalassaemia major
Therapie der β-Thalassaemia intermedia [5][8][17][18]
Bei gutem klinischem Zustand ist zunächst meist keine spezifische Therapie notwendig. Wichtig ist, eine Verschlechterung der Situation durch engmaschige Kontrollen früh zu erkennen, um Therapiemaßnahmen einzuleiten und Entwicklungsverzögerungen oder andere Komplikationen zu verhindern. Siehe zu Monitoring-Untersuchungen: Aufnahmestatus und Verlaufsdiagnostik bei β-Thalassaemia major und intermedia
- Transfusionstherapie: Initial i.d.R. nicht notwendig, ggf. bei Verschlechterung im Krankheitsverlauf
- Indikation: Relevante klinische Symptome, insb.
- Wachstums- oder Entwicklungsverzögerungen
- Extramedulläre Blutbildung
- Endokrine Störungen
- Kardiale Komplikationen
- Thromboembolien [19]
- Symptomatische Anämie
- Psychologische Faktoren
- Indikation: Relevante klinische Symptome, insb.
- Chelattherapie
- Indikation: Selten notwendig, nur bei Eisenüberladung (gemessen an Lebereisenkonzentration, nicht über das Serumferritin!)
- Substanzauswahl: Deferoxamin Mittel 1. Wahl, alternativ Deferasirox
- Therapie-Monitoring: Über Lebereisengehalt
Therapie der β-Thalassaemia major
Symptomatische Therapieoptionen [2][5][7][8][17]
Die symptomatische Behandlung der Thalassaemia major beinhaltet eine regelmäßige Erythrozyten-Transfusionstherapie in Kombination mit einer Chelattherapie zur Verhinderung einer Eisenüberladung des Organismus.
Transfusion von Erythrozytenkonzentraten
- Ablauf: Regelmäßige Transfusion, i.d.R. alle 3 Wochen
- Unter Monitoring des Eisenstatus und kombinierter Chelattherapie zur Vermeidung sekundärer Eisenüberladung (siehe: Verlaufsdiagnostik bei β-Thalassaemia major)
- Therapiebeginn: Bei wiederholten Hb-Werten <8 g/dL oder klinisch ausgeprägten Symptomen
- Hb-Zielwerte
- Basiswert von 9–10,5 g/dL
- 13–13,5 g/dL nach Transfusion
- Therapieziele
- Therapie der Anämie
- Suppression der dysfunktionalen Erythropoese und der erhöhten gastrointestinalen Eisenaufnahme
Chelattherapie bei Thalassämie [18]
- Therapiebeginn: Serumferritin-Konzentrationen >1000 μg/L und/oder erhöhter Eisengehalt der Leber
- Ziel: Vermeidung und Therapie einer sekundären Eisenüberladung
- Anwendung: Gabe von Eisenchelatbildnern als Einzel- oder Kombinationstherapie, bspw.
- Deferasirox (DSX oder DFX)
- Orale Gabe möglich
- Zulassung ab 6 Jahren, bei Kontraindikationen gegen Deferoxamin auch ab 2 Jahren
- Nebenwirkungen (Auszug): Gastrointestinale Beschwerden, Exantheme, seltene Fälle von Nierenversagen, Transaminasenerhöhung, Linsentrübung, Hörstörungen, Blutbildveränderungen
- Deferoxamin (DFO)
- Mittel 1. Wahl für Kinder <6 Jahren
- Parenterale Gabe notwendig
- Nebenwirkungen (Auszug): Lokalreaktion der Injektionsstelle, Agranulozytose, gastrointestinale Beschwerden, Myalgien und Arthralgien, Innenohrschwerhörigkeit und Tinnitus, selten Visusverlust, Leber- und Nierenfunktionsstörungen
- Deferipron (DFP)
- Als Monotherapeutikum nur Mittel der 2. Wahl bei Kontraindikation für Deferasirox und Deferoxamin, sonst Gabe in Kombitherapie
- Nebenwirkungen (Auszug): Gastrointestinale Beschwerden, Arthralgien, Transaminasenerhöhung, Agranulozytose
- Deferasirox (DSX oder DFX)
- Monitoring der Chelatbildnertoxizität: Durchführung regelmäßiger Kontrolluntersuchungen zur Früherkennung schwerer Nebenwirkungen
- Deferasirox
- Kreatinin: 1×/Monat sowie wöchentlich bei Dosissteigerung
- Cystatin C: 1×/Monat
- ALT, AST, γGT, AP, Bilirubin: 1×/Monat bzw. im 1. Gabemonat sowie bei Dosissteigerung 2×/Monat
- Calcium, Phosphat: 4×/Jahr
- Urin-Stix (Proteinurie-Abklärung): 4×/Jahr
- Augenärztliche Untersuchung: 1×/Jahr
- Audiometrie: 1×/Jahr
- Deferoxamin
- Augenärztliche Untersuchung: 1×/Jahr
- Audiometrie: 1×/Jahr
- Kreatinin: 1×/Jahr ab 6. Lebensjahr
- Cystatin C: 4×/Jahr
- Deferipron
- Differenzialblutbild: 1×/Woche
- Serum-Zink: 1×/Jahr, bei Blutentnahme sollte der Patient nüchtern sein
- Deferasirox
Die Verfügbarkeit oraler Chelatbildnern, die steigende Sicherheit von Blutprodukten sowie ein enges Monitoring von Therapienebenwirkungen und krankheitsbedingten Folgekomplikationen hat in den letzten Jahren wesentlich zur Verbesserung von Morbidität, Mortalität und Lebensqualität von Thalassämiepatienten beigetragen! [17][20]
Lebensstil- und Ernährungsempfehlungen [17]
- Ernährung: Ausgewogene Ernährung ohne spezielle Restriktionen empfohlen
- Meiden von Nahrungsmitteln mit extrem hohem Eisengehalt (aber keine speziell eisenarme Diät empfohlen)
- Ausreichende Calciumaufnahme (aber keine regelhafte Calcium-Supplementation empfohlen)
- Lebensstil
- Alkoholabstinenz
- Körperliche Aktivität
Kurative Therapieoptionen [5][7][17]
Allogene Stammzelltransplantation [21][22]
- Stellenwert: Therapie der Wahl bei vorhandenem HLA-identischem Spender (i.d.R. Geschwisterkind), limitiert durch begrenzte Verfügbarkeit passender Spender
- Limitationen
- Begrenzte Verfügbarkeit passender Spender
- Fehlende medizinische Infrastruktur oder Kostendeckung (insb. in Ländern des globalen Südens)
- Transplantationsrisiken, u.a. GvHD und reduzierte Fertilität durch Chemotoxizität der myeloablativen Therapie
- Bereits eingetretene Organkomplikationen sind meist nicht oder nur begrenzt reversibel
- Zeitpunkt: Möglichst ≤14. Lebensjahr und vor dem Auftreten von Komplikationen
- Prognose: Abhängig insb. von präoperativem Zustand des Patienten sowie Expertise des Transplantationszentrums
- ∼90% krankheitsfreies Überleben bei Transplantation im Kindesalter und mit Geschwister-Spender
- Niedriger bei Erwachsenen oder nicht-geschwisterlichem Spender
Gentherapie bei Thalassämien (Zynteglo) [23][24][25][26]
- Stellenwert
- Seit 2019 EU-weit als sog. Orphan Drug zugelassen
- Anwendung unter strenger Indikationsstellung in qualifizierten Behandlungszentren
- I.d.R. im Rahmen von Studien
- Therapieprinzip
- Entnahme autologer Stammzellen
- Ersatz des mutierten β-Globin-Gens durch Einbringen eines gesunden β-Globin-Gens in die Stammzellen mithilfe eines Lentivirus-Vektors
- Myeloablative Therapie wie bei einer allogenen Stammzelltransplantation
- Rückübertragung der genetisch veränderten Stammzellen durch eine Infusion
- Ansiedlung der genetisch veränderten Stammzellen im Knochenmark
Zur kurativen Therapie werden die Stammzellen des Patienten durch gesunde Stammzellen ersetzt. Das Genom der übrigen Körperzellen bleibt aber unverändert. Somit sind auch geheilte Patienten weiter Mutationsträger und können die Erkrankung an ihre Kinder weitergeben! [26]
Komplikationen
Insb. bei der β-Thalassaemia major, teilweise aber auch bei heterozygoten Formen mit moderater Klinik kommt es im Verlauf der Erkrankung durch die Eisenüberladung zu Organschäden an Herz und endokrinen Organen. Zum Monitoring typischer Komplikationen siehe auch: Verlaufsdiagnostik bei β-Thalassaemia major und intermedia
Transfusionsassoziierte Komplikationen
- Sekundäre Hämochromatose [5]
- Kardial: Myokardsiderose mit Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz
- Endokrinologisch: Diabetes mellitus (sog. „Bronzediabetes“), Hypogonadismus, Wachstumsstörungen, Hypothyreose, Hypoparathyreoidismus, Osteoporose
- Leber: Leberzirrhose
- Transfusionsassoziierte Virusinfektionen, insb. Hepatitis C (in Deutschland sehr selten!) [5][27]
Chelatbildnertoxizität
In Abhängigkeit des verwendeten Wirkstoffs birgt die Chelattherapie das Risiko unterschiedlicher schwerer Nebenwirkungen. Daher sind zur Früherkennung je nach Substanz bestimmte Monitoring-Untersuchungen empfohlen. Siehe hierzu: Monitoring der Chelatbildnertoxizität
Osteopenie-Osteoporose-Syndrom [5]
- Ätiologie: Multifaktoriell, insb.
- Durch unzureichende Transfusionstherapie angeheizte Erythropoese mit Ausdehnung des blutbildenden Knochenmarks
- Schädigung von Osteoblasten durch Eisen bei unzureichender Chelattherapie
- Hormonell bedingt durch Hypogonadismus und Hypoparathyreoidismus
- Therapie
- Körperliche Aktivität und Nikotinkarenz
- Optimierung von Transfusions- und Chelattherapie
- Behandlung von Hormonmangelzuständen
- Gabe von Bisphosphonaten
- Substitution von Calcium und Vitamin D
Splenomegalie, ggf. mit Hypersplenie-Syndrom
- Ätiologie: Extramedulläre Blutbildung und gesteigerter Abbau von Erythrozyten
- Therapie: Splenektomie, ggf. auch als subtotale Splenektomie
- Indikation: Hypersplenie mit
- Steigendem Transfusionsbedarf oder
- Neutropenie und/oder Thrombozytopenie oder
- Lokale Symptome der Hypersplenie
- Nachsorge: Siehe Prophylaxe bei elektiver Splenektomie
- Indikation: Hypersplenie mit
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Abhängig von vorliegender Form sowie von der Verfügbarkeit einer optimalen medizinischen Betreuung, d.h. insb. auch von der nationalen Gesundheitsversorgung
- α-Thalassämie [10]
- Minorformen: I.d.R. normale Lebenserwartung
- HbH-Krankheit: Je nach Phänotyp, meist normale Lebenserwartung
- Hb-Barts-Hydrops-fetalis: I.d.R. perinataler Tod
- β-Thalassämie [17]
- Minorformen: I.d.R. normale Lebenserwartung
- β-Thalassaemia intermedia und major: Je nach Phänotyp, unter optimaler Therapie kann auch bei der Majorform eine normale Entwicklung inkl. der Möglichkeit zur Elternschaft und eine fast normale Lebenserwartung erreicht werden
Studientelegramme zum Thema
- HOMe Studientelegramme Innere Medizin
- Studientelegramm 119-2020-1/3: BELIEVE: Neues Orphan-Arzneimittel zur Anämiebehandlung bei β-Thalassaemia major
- Studientelegramm 24-2018-1/3: β-Thalassämie - Gentherapie auf dem Weg in die Klinik
- One-Minute Telegram (aus unserer englischsprachigen Redaktion)
- One-Minute Telegram 17-2021-1/3: A CRISPR-Cas miracle? Report on two successful attempts at treatment
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Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Thalassämien
Inhaltliches Feedback zu den Meditricks-Videos bitte über den zugehörigen Feedback-Button einreichen (dieser erscheint beim Öffnen der Meditricks).
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- D56.-: Thalassämie
- D56.0: Alpha-Thalassämie
- Exklusive: Hydrops fetalis durch hämolytische Krankheit (P56.‑)
- D56.1: Beta-Thalassämie
- Cooley-Anämie
- Schwere Beta-Thalassämie
- Thalassaemia:
- intermedia
- major
- Exklusive: Sichelzell(en)-Beta-Thalassämie(D57.2)
- D56.2: Delta-Beta-Thalassämie
- D56.3: Thalassämie-Erbanlage
- Thalassaemia (beta) minor
- D56.4: Hereditäre Persistenz fetalen Hämoglobins [HPFH]
- D56.8: Sonstige Thalassämien
- D56.9: Thalassämie, nicht näher bezeichnet
- Mittelmeeranämie (mit sonstiger Hämoglobinopathie)
- Thalassämie (gemischt) (mit sonstiger Hämoglobinopathie)(nicht näher bezeichnet)
- D56.0: Alpha-Thalassämie
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.