Zusammenfassung
Notfälle im Kreißsaal sind ein gefürchtetes Szenario. Ihr Management erfordert klinikspezifische Handlungsalgorithmen, regelmäßiges Training sowie eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kommunikation unter Berücksichtigung einer festgelegten, eindeutigen Nomenklatur. Dieses Kapitel bietet eine interdisziplinäre Übersicht von Notfällen.
Für das konkrete Vorgehen bei geburtshilflichen Notfällen siehe die spezifischen Kapitel, bspw.:
- Notsectio
- Schulterdystokie
- Nabelschnurvorfall
- Intra- und postpartale Blutungen, insb. Uterusatonie
- Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
- Uterusruptur
- Fruchtwasserembolie
Für das anästhesiologische Management zur Notsectio siehe: Anästhesie bei Notsectio!
Definition
Notfall im Kreißsaal
- Akuter, lebensbedrohlicher Vorfall für Mutter und/oder Kind
- Sofortiger Handlungsbedarf erforderlich
- I.d.R. Entbindung per Notsectio und/oder
- Ggf. zusätzliche Maßnahmen für Kind und/oder Mutter
Müttersterblichkeit
Definition gemäß WHO [4]
- Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder Geburt oder innerhalb von 42 Tagen nach Ende einer Schwangerschaft
- Unabhängig von Dauer und Sitz der Schwangerschaft
- Inkl. jeglicher Ursachen, die mit der Schwangerschaft oder deren Bewältigung zusammenhängen
- Exklusive zufälliger oder unbeabsichtigter Ursachen
- Angabe als Todesfälle pro Jahr
Definitionen gemäß ICD-10
- Sterbefall während der Gestation, Geburt und Wochenbett
- Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder Geburt oder innerhalb von 42 Tagen nach Ende einer Schwangerschaft
- Unabhängig von der Todesursache
- ICD-10-Code O95
- Gestationsbedingter Sterbefall (Müttersterbefälle)
- Analog zur Müttersterblichkeit gemäß WHO-Definition
- Einteilung in zwei Gruppen
- Direkte Müttersterbefälle: Sterbefälle infolge von
- Indirekte Müttersterbefälle: Sterbefälle infolge von
- Später Müttersterbefall
- Tod einer Frau >42 Tage nach Ende einer Schwangerschaft bis zu 1 Jahr nach Geburt
- Todesursache direkt oder indirekt gestationsbedingt
- ICD-10-Codes: O96 und O97
- Nicht-gestationsbedingter Sterbefall
- Sterbefälle infolge von
- Äußerer Gewalt
- Zufälligen Ereignissen
- Sterbefälle ohne Angabe zur Todesursache
- Beispiel: Unfälle [6]
- Sterbefälle infolge von
Epidemiologie
- Häufigkeit von Notfällen im Kreißsaal
- Abhängig von der Art des Notfalls
- Postnatale Unterstützung der Atmung bei bis zu 5% der Neugeborenen erforderlich, weitere Maßnahmen bei ca. 1% nötig [7]
- Müttersterblichkeitsrate: Angabe als Todesfälle pro 100.000 Lebendgeburten
- Durchschnittliche Müttersterblichkeitsrate in Ländern des Globalen Nordens: Ca. 12/100.000 [1]
- Müttersterblichkeitsrate in Deutschland: 4/100.000 [8]
Häufigkeit wichtiger Ursachen für die Müttersterblichkeit | |||
---|---|---|---|
Inzidenz [9] | Anteil an den direkten Müttersterbefällen [1] [2] | ||
Intra- und postpartale Blutungen | Antepartale Blutungen |
|
|
Postpartale Blutungen |
| ||
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen | Präeklampsie |
|
|
HELLP-Syndrom |
| ||
Fruchtwasserembolie |
|
| |
Thromboembolie |
|
| |
Peripartale Sepsis |
|
|
Notfälle im Kreißsaal sind eine wichtige Ursache der Müttersterblichkeit!
Hauptursachen der direkten Müttersterbefälle sind intra- und postpartale Blutungen, hypertensive Schwangerschaftserkrankungen, Embolien und Sepsis!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Klassifikation
Notfälle im Kreißsaal können eingeteilt werden in maternale und fetale Notfälle, oft betreffen sie jedoch beide. Zudem ist eine Einteilung nach Fachrichtungen möglich. Vereinfacht lassen sich Notfälle im Kreißsaal wie folgt einteilen: [5]
- Geburtshilfliche Notfälle
- Durch anästhesiologische Maßnahmen verursachte Komplikationen
- Mit Vorerkrankungen der Mutter assoziierte Komplikationen
- Unabhängig von der Schwangerschaft auftretende Erkrankungen und Komplikationen
- Mischformen der genannten Komplikationen
Primär geburtshilfliche Notfälle
- Peripartale Blutungen
- Uterusatonie
- Uterusruptur
- Plazentaimplantationsstörungen
- Insertio velamentosa
- Vorzeitige Plazentalösung
- Plazentalösungsstörung
- Gerinnungsstörungen (angeboren oder erworben)
- Blutungen nach vaginal-operativer Entbindung
- Blutungen nach Sectio caesarea
- Blutungen infolge von Geburtsverletzungen
- Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
- Blutdruckentgleisung bei
- Eklampsie
- HELLP-Syndrom
- Fruchtwasserembolie
- Fetale Notfälle
- Drohende Frühgeburtlichkeit
- Fetale Bradykardie, Dezelerationen
- Nabelschnurvorfall [15]
- Querlage mit Fuß- oder Armvorfall [1]
- Schulterdystokie
- Zephale Dystokie [1]
Primär anästhesiologische Notfälle
- Atemwegskomplikationen
- Arterielle Hypotonie
- Sympathikolyse durch Anlage eines rückenmarksnahen Regionalanästhesieverfahrens
- Vena-cava-Kompressionssyndrom
- Schock
- Totale Spinalanästhesie
- Intrathekale Fehllage eines Periduralkatheters
- Fehldosierung oder inkorrekte Lagerung nach Injektion des Lokalanästhetikums bei Spinalanästhesie
- Systemische Lokalanästhetika-Intoxikation [16]
Primär internistische Notfälle
- Kardiale Notfälle
- Pulmonale Notfälle
- Lungenödem bei Schwangeren [15]
- Asthma bronchiale bei Schwangeren (bei akutem Anfall)
- COVID-19 bei Schwangeren (bei respiratorischer Insuffizienz)
- Systemische Notfälle
- Peripartale Sepsis
- Anaphylaxie bei Schwangeren
- Intoxikation
- Embolien und Thrombosen
- Endokrinologische Notfälle [15]
- Diabetische Stoffwechselentgleisungen
- Thyreotoxikose
- Hypophyseninfarkt (Sheehan-Syndrom)
Primär neonatologische Notfälle
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnosen für maternalen Kollaps [8]
Differenzialdiagnosen für maternalen Kollaps [8] | ||||
---|---|---|---|---|
ZNS/Kopf | Kardiovaskulär | Respiratorisch/Hypoxie | Hämorrhagie | Systemisch |
Differenzialdiagnosen für maternalen Herzstillstand [17]
Differenzialdiagnosen für maternalen Herzstillstand [17] | ||
---|---|---|
A | Anästhesiologische Komplikationen |
|
Traumata (engl. „accidents“) |
| |
B | Blutungen |
|
C | Kardiovaskuläre Ursachen | |
D | Drogen- bzw. medikamenteninduziert |
|
E | Embolien | |
F | Fieber | |
G | Generelle Ursachen | |
H | Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen |
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Therapie
Prinzipiell erfordern interdisziplinäre Notfälle im Kreißsaal häufig einen oder mehrere der folgenden Punkte: [18]
- Notsectio, siehe auch:
- Neugeborenenerstversorgung, siehe auch:
- Intensivierte Notfalltherapie der Mutter, siehe auch:
Spezifische Therapie
Das spezifische Vorgehen richtet sich nach der jeweiligen Situation. Die folgende Linksammlung bietet eine Übersicht relevanter Kapitel (es besteht jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit!).
Intra- und postpartale Blutungen
- Basismaßnahmen bei intra- und postpartalen Blutungen
- Maßnahmen bei schweren intra- und postpartalen Blutungen
- Invasive Maßnahmen bei intra- und postpartalen Blutungen
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen
- Antihypertensive Therapie bei hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen
- Anfallssuppressive Therapie bei hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen
Embolien
Atemwegskomplikationen
Arterielle Hypotonie
- Vasopressoren bei Sectio caesarea
- Medikamentöse Kreislaufunterstützung
- Lipid-Therapie bei Lokalanästhetika-Intoxikation
Internistische Notfälle
Kindliche (fetale oder neonatologische) Notfälle
- Drohende Frühgeburtlichkeit - Therapie
- Nabelschnurvorfall
- Maßnahmen bei Schulterdystokie
- Maßnahmen bei zephaler Dystokie
- Mekoniumaspirationssyndrom - Therapie
- Atemnotsyndrom des Neugeborenen - Therapie
- Neugeboreneninfektion - Therapie
Organisatorische Aspekte
Interdisziplinäre Notfallkonzepte für den Kreißsaal [18][20]
- Klinikspezifische Entwicklung und Implementation
- Insb. für potenziell schwerwiegende Notfallsituationen
- Aushängen der Konzepte an allen relevanten Orten in der Klinik
- Inhalt der Notfallkonzepte: Abhängig vom konkreten Anwendungsfall, bspw.
- Teamzusammensetzung
- Alarmierungswege
- Richtlinien für die Kommunikation
- Zuständigkeit für Transport der Patientin
- Interdisziplinäres Training und Nachbereitung von Notfallsituationen
- Speziell bei peripartalen Blutungen: Fokus auf Stufenschema sowie interdisziplinäre Abstimmung
- Speziell bei Notsectio: Fokus auf Zuständigkeiten von Einzelpersonen für bestimmte Handlungen und deren Priorisierung
- Bestandteile der Notfallkonzepte, bspw.
- Checklisten bzw. Algorithmen
- Frühwarnsysteme, bspw. Modified early obstetric Warning Score (MEOWS) [21]
- Leitliniengerechte Umsetzung der Empfehlungen, bspw. zu
- Peripartalen Blutungen [10]
- Notsectio [16][22]
- Schulterdystokie
- Ziel: Reduktion der Hauptursachen für geburtshilfliche Schadensfälle, dazu zählen [23]
- Suboptimale Kommunikation
- Verzögerte Indikationsstellung für Interventionen
- Unklare Zuständigkeiten von Geburtshilfe (ärztlich und Hebammen), Anästhesie und Neonatologie
Es sollten klinikspezifische, interdisziplinäre Notfallkonzepte entwickelt werden, die klare Algorithmen und Zuständigkeiten für konkrete Anwendungsfälle beinhalten!
Geburtshilfliche Schadensfälle entstehen meist nicht durch mangelnde individuelle Fachkompetenz, sondern durch unzureichende interdisziplinäre Zusammenarbeit! [23]
Simulationsbasiertes Training [23][24]
- Anwendung
- Sinnvoll für bestimmte Szenarien, bspw. Notsectio [18]
- Regelmäßige Durchführung empfohlen, bspw. monatlich
- Insb. geeignet für selten auftretende Notfälle mit potenziell großem Schaden
- Formen
- Skills-Training
- Individuelles Einüben grundlegender Fertigkeiten am Modell
- Routine bzgl. handwerklicher Fähigkeiten
- Expertise bzgl. kognitiver Fähigkeiten
- Algorithmustraining
- Gemeinsames Einüben von Handlungsabläufen am Modell
- Möglichst unter Supervision durch erfahrenes Personal
- Erreichen vorab klar formulierter Lernziele
- Interdisziplinäres Teamtraining im Simulationskreißsaal
- Gemeinsames interdisziplinäres Einüben von Handlungsabläufen im Simulationskreißsaal
- Unter Supervision durch externes Trainingspersonal
- Ziel: Koordination und Integration aller Einzelhandlungen zu einem Gesamtablauf
- Skills-Training
- Mögliche Trainingseffekte [25]
- Vermeidung von Fehlern
- Verbesserung der Patientinnensicherheit
- Erhöhte Schnelligkeit durch Einüben einer Routine
- Erwerb von Fachwissen und/oder praktischen Fähigkeiten
- Verbesserte Kommunikation und Zusammenarbeit des Teams
Richtlinien für die Kommunikation im Notfall [18]
- Festlegung klarer Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, insb. bzgl.
- Teamleitung
- Informationsweitergabe
- Handlungsanweisungen
- Präzise und so kurz wie möglich formuliert
- Direkt an die betreffende Person gerichtet
- Bestätigung bzw. Wiederholung durch adressierte bzw. ausführende Person
- Siehe auch: SBAR-Konzept
- Verwendung einer eindeutigen Nomenklatur , siehe auch:
- Kommunikation mit der Patientin
- Direkte und lückenlose Kommunikation
- Feste Ansprechperson, bspw. anästhesiologisches Personal
- Lagebesprechung: Durchführung im gesamten Team
Zuständigkeiten bei der Kommunikation (Beispiel: Notsectio) [18] | ||
---|---|---|
Hebammen |
|
|
Geburtshilfe |
|
|
Anästhesie |
|
|
Prävention
Ziele der Präventionsmaßnahmen
- Während der Schwangerschaft
- Identifikation von Risikokonstellationen in der Schwangerschaft, siehe: Risikoschwangerschaft
- Prävention bzw. Behandlung von Erkrankungen, siehe: Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft
- Bei Risikokonstellation: Adäquate Geburtsvorbereitung und -planung
- Bspw. geplante Aufnahme im Perinatalzentrum
- Besprechung schwieriger Fälle in institutionalisierten Hochrisikoboards [5]
- Nach Aufnahme zur Geburt
- Sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung
- Siehe auch: Management im Kreißsaal
- Frühes Hinzuziehen der Anästhesie bei V.a. Risikofaktoren
- Ggf. frühzeitige Anlage eines Periduralkatheters
- Siehe auch: Anästhesie zur Geburt und Risikofaktoren für eine sekundäre Sectio caesarea
- Sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung
Die fehlende Identifikation relevanter Komorbiditäten gilt als Hauptrisikofaktor für vermeidbare Notfälle im Kreißsaal! [5]
Stufenmodell der geburtshilflichen Versorgung [9]
Zur Prävention von schwerwiegenden Komplikationen geburtshilflicher Notfälle ist die Auswahl der richtigen Geburtseinrichtung ein wichtiger Baustein.
Strukturelle Voraussetzungen der perinatologischen Versorgung in Deutschland [9] | ||
---|---|---|
Versorgungsstufe | Bezeichnung | Kriterien für Aufnahme der Schwangeren |
I |
|
|
II |
|
|
III |
|
|
IV |
|
|
AMBOSS-Podcast zum Thema
Notfallmanagement: Konzepte für einen souveränen Umgang – Teil 1 (März 2021)
Notfallmanagement: Konzepte für einen souveränen Umgang – Teil 2 (April 2021)
Interesse an noch mehr Medizinwissen zum Hören? Abonniere jetzt den AMBOSS-Podcast über deinen Podcast-Anbieter oder den Link am Seitenende unter "Tipps & Links“