Grundlagen
Ziele der AMBOSS-SOP Kopfschmerzen
- Schnellstmögliche Identifikation von Pat. mit sekundären Kopfschmerzen zur Vermeidung gravierender Komplikationen bis zum Tod durch strukturierte Anamnese und Untersuchung, diagnostischer Abklärung der Grunderkrankung, Einleitung der spezifischen Therapie
- Erkennen akut behandlungsbedürftiger primärer Kopfschmerzformen
Primäre Kopfschmerzerkrankungen sind – wenngleich in vielen Fällen äußerst unangenehm – in aller Regel benigne. Oberste Priorität hat daher zunächst immer der Ausschluss bzw. die Identifikation sekundärer Kopfschmerzen und ihrer Ursachen!
Kopfschmerzen sind ein sehr häufiges und gleichzeitig sehr unspezifisches Symptom vieler verschiedener Erkrankungen, das neben einer symptomatischen Therapie eine diagnostische Einordnung erfordert, um insb. gefährliche Kopfschmerzursachen frühzeitig zu erkennen!
1 - Basismaßnahmen
- Überprüfung und ggf. Sicherung der Vitalfunktionen nach dem cABCDE-Schema
- Messung und ggf. weiteres Monitoring der Vitalparameter: Herzfrequenz, EKG, Atmung, spO2, Blutdruck, Körpertemperatur
- Venöse Blutentnahme und intravenöser Zugang
- Bedarfsgerechte Versorgung
- Beginn und bedarfsgerechte Eskalation einer Schmerztherapie
- Bei leichten bis moderaten Schmerzen: Nicht-Opioid-Analgetikum, z.B. Ibuprofen oder Metamizol , ggf. in Kombination
- Bei moderaten bis starken Schmerzen: Kombination zweier Nicht-Opioid-Analgetika plus Opioid, z.B. Oxycodon unretardiert oder Piritramid
- Bei neuralgiformen (Gesichts‑)Schmerzen: Paralleler Beginn einer neuropathischen Schmerztherapie mit Carbamazepin oder Pregabalin
- Siehe für weitere Empfehlungen: Akutschmerztherapie in der Notaufnahme
- Bei Körpertemperatur >38,5 °C: Antipyretikum (z.B. Paracetamol )
- Beginn und bedarfsgerechte Eskalation einer Schmerztherapie
2 - Strukturierte Kopfschmerzanamnese
Wichtigstes Werkzeug zur differenzialdiagnostischen Einordnung der Kopfschmerzen anhand von Information, die sich grob in fünf Kategorien (mit Überlappungen) einordnen lassen:
Die 5 „W“ der Kopfschmerzanamnese: Wann/wie lange? Wie stark? Wo? Wie? Welche Begleitfaktoren?
- Zeitliche Einordnung (Wann? Wie lange?), z.B.
- Schmerzintensität (Wie stark?), z.B.
- Einschätzung anhand numerischer oder visueller Analogskala (0–10)
- Konstante oder variable Schmerzintensität? Sind schmerzfreie Intervalle vorhanden?
- Schmerzlokalisation (Wo?), z.B.
- Kopfschmerz im engeren Sinne oder Gesichtsschmerz?
- Ein- oder beidseitig lokalisiert?
- Auf bestimme Region begrenzt oder holozephal?
- Stationärer oder wandernder Schmerz?
- Oberflächlicher oder tiefer Schmerz?
- Schmerzcharakter (Schmerzqualität, Wie?), z.B.
- Dumpfer oder scharfer Schmerz?
- Neuralgiformer Schmerz?
- Begleitumstände/-symptome (Welche?), z.B.
- Sind Kopfschmerzen oder eine bestimmte primäre Kopfschmerzerkrankung bekannt? Wenn ja, warum erfolgt jetzt eine notfallmäßige Vorstellung?
- Liegt eine Aurasymptomatik vor?
- Bestehen Übelkeit und/oder Erbrechen? Werden Lichtscheu oder Lärmempfindlichkeit beschrieben?
- Gibt es Schmerzauslöser oder lindernde Faktoren?
- Existieren (prädisponierende) Vorerkrankungen?
- Werden (prädisponierende) Medikamente eingenommen?
- Besteht ein Nikotin- oder sonstiger Substanzkonsum?
3 - Neurologische Untersuchung
- Unbedingt erforderlich zur Klärung von Begleitsymptomen, um die differenzialdiagnostische Einordnung zu präzisieren
- Besteht ein fokal-neurologisches Defizit , das auf eine strukturelle Läsion des Gehirns deutet, die auch Auslöser der Kopfschmerzen sein könnte?
- Liegen Hinweise auf eine notfallmäßige Augenerkrankung oder eine Entzündung im Kopf-/Halsbereich vor?
- Orientierende, fokussiert neurologische Notfalluntersuchung
Untersuchung | Pathologische Notfallbefunde | |
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Quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörung |
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Meningismus |
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Nebenhöhlen, Zahnstatus |
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Sprache/Sprechen |
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Sehen |
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Augen im Seitenvergleich |
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Okulomotorik |
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Faziale Motorik im Seitenvergleich |
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Faziale Sensibilität im Seitenvergleich |
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Hirnstammreflexe im Seitenvergleich |
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Grobe Kraftprüfung im Seitenvergleich |
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Einzelkraftprüfung im Seitenvergleich und gegen Widerstand |
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Muskeltonus im Seitenvergleich |
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Reflexe im Seitenvergleich |
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Sensibilität im Seitenvergleich |
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Zerebelläre Funktion im Seitenvergleich |
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Stand- und Gangprüfung, wenn durchführbar |
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4 - Erkennen sekundärer Kopfschmerzen
Die Befunde aus Anamnese und körperlicher Untersuchung müssen auf Warnhinweise für potenziell lebensgefährliche sekundäre Kopfschmerzen überprüft werden, um die geeignete Notfalldiagnostik einleiten zu können. Bei mehreren gleichzeitig vorliegenden Warnhinweisen muss nach der höchsten Dringlichkeitsstufe vorgegangen werden.
- Bei Vorliegen von Warnhinweisen: Geeignete Bildgebung durchführen (siehe Tabelle)
- Kein wegweisender Befund → Lumbalpunktion/Liquoruntersuchung nach Ausschluss von Kontraindikationen
- Entwarnung frühestens nach unauffälliger Liquoruntersuchung
- Wegweisender Befund → Spezifische Therapie einleiten
- Kein wegweisender Befund → Lumbalpunktion/Liquoruntersuchung nach Ausschluss von Kontraindikationen
- Bei Abwesenheit von Warnhinweisen: Symptomatische Therapie unter der Annahme exazerbierter primärer Kopfschmerzen
Grundsätzlich sollte in Zweifelsfällen die Indikation zur Bildgebung und anschließenden Liquoruntersuchung sehr großzügig gestellt werden. Faustregeln: Je schwieriger oder unvollständiger die Anamnese (z.B. bei Sprachbarriere), desto eher Bildgebung! Je älter die Patn. (insb. bei Erstmanifestation der Kopfschmerzen!), desto eher Bildgebung! Je stärker der Schmerz und/oder der allgemeine Krankheitsgrad, desto eher Bildgebung!
Es liegen häufig mehrere Warnhinweise gleichzeitig vor! Für die Entscheidung über die Dringlichkeit der Bildgebung zählt immer die höhere angegebene Dringlichkeitsstufe zum Ausschluss der potenziell gefährlichsten möglichen Verdachtsdiagnosen!
Warnhinweise für sekundäre Kopfschmerzen – Praktisches Vorgehen je nach Warnhinweis und Verdachtsdiagnosen | ||||
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Warnhinweis | Schwerwiegendste Verdachtsdiagnosen | Geeignete Bildgebung | Weiteres Vorgehen | |
Zeitliche Einordnung | Apoplektiformer Kopfschmerzbeginn |
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Donnerschlagkopfschmerz | SAB |
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Erstmaliges Auftreten neuartiger Kopfschmerzen | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen |
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Schmerzintensität | Vernichtungskopfschmerz | SAB |
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Schmerzlokalisation | Ausstrahlende Hals- oder Nackenschmerzen | Dissektion extrakranieller hirnversorgender Gefäße |
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Schmerzcharakter | Eindeutige Änderung des Charakters bekannter Kopfschmerzen | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen |
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Begleitumstände | Erhöhtes Thromboserisiko | Sinus- oder Hirnvenenthrombose |
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Kürzlich zurückliegende Lumbalpunktion oder Operation mit Eröffnung der Dura mater | Liquorunterdrucksyndrom |
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Immunsuppression, HIV-Infektion | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen |
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Adipositas + weibliches Geschlecht + jüngeres Lebensalter | Idiopathische intrakranielle Hypertension |
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Begleitsymptome | Quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörung | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen | ||
Fieber | Enzephalitis, Meningitis, Sinusitis |
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Meningismus, meningeale Reizzeichen | SAB, Meningitis |
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Fieber und Meningismus | Meningitis, Meningo-Enzephalitis |
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Massives Erbrechen | Zunahme des intrakraniellen Drucks bei intrakranieller Raumforderung |
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Amaurosis fugax | TIA bei
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Homonyme Hemianopsie oder homonyme Quadrantenanopsie | Hirninfarkt im Stromgebiet der A. cerebri posterior |
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Monokulare Visusminderung |
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Rotes Auge und/oder verhärtetes Auge | Glaukomanfall |
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Epileptischer Anfall | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen |
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Horner-Syndrom | Dissektion der A. carotis |
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Druckschmerzhafte A. temporalis und/oder Claudicatio masticatoria | Arteriitis cranialis |
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Neu aufgetretene fokal-neurologische Defizite | Verschiedene symptomatische Kopfschmerzursachen |
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Kalottenklopfschmerz und/oder Zunahme der Schmerzen bei Vornüberbeugen des Kopfs und/oder Rhinitis | Sinusitis |
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Eindeutige Zunahme der Kopfschmerzen im Liegen | Zunahme des intrakraniellen Drucks bei intrakranieller Raumforderung |
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Zunahme der Kopfschmerzen in aufrechter Körperposition | Liquorunterdrucksyndrom |
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B-Symptome und/oder bekannte maligne Grunderkrankung | Metastasierung, Meningeosis neoplastica |
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Unter dem Akronym „SNOOP“ existieren vereinfacht zusammengefasste Warnhinweise zur Erkennung sekundärer Kopfschmerzen, die v.a. im präklinischen Bereich Anwendung finden.
- S - Systemische Symptome oder sekundäre Risikofaktoren
- N - Neurologische Symptome
- O - „Onset“, Einsetzen der Kopfschmerzen
- O - „Older Age“, höheres Lebensalter
- P - „Previous Headache History“, Kopfschmerzen in der Vorgeschichte oder „Pattern Change“, Änderung des typischen Charakters bekannter Kopfschmerzen
5 - Akuttherapie spezieller primärer Kopfschmerzformen
Die folgenden attackenartig auftretenden primären Kopfschmerzformen erfordern häufig eine spezielle Akuttherapie und sind deshalb hier aufgeführt. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Migräneattacke
- Epidemiologie
- Erstmanifestation meist zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr, selten nach dem 40. Lebensjahr
- Frauen bis zu dreimal häufiger betroffen als Männer
- Klinik/Symptome
- Häufig einseitige (in 60% der Attacken), heftige pulsierend-pochende Kopfschmerzen mit wechselnder, mindestens mittlerer Schmerzintensität, die sich durch körperliche Aktivität verstärken
- Attacken mit einer Dauer von 4–72 h, meist nicht mehrmals am Tag
- Begleitet von Übelkeit, z.T. mit Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, auch Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen (mind. ein Begleitsymptom)
- In etwa 10–20% mit vorangehender Aura : komplett reversible, meist visuelle (Flimmerskotome) oder sensible Symptome (Par- oder Hypästhesien) über bis zu 60 min , die vor Beginn der Kopfschmerzattacke einsetzen
- Akuttherapie
- Nicht-steroidales Analgetikum, z.B. ASS oder Metamizol plus Antiemetikum, z.B. Metoclopramid
- Bei schwerer Migräneattacke oder fehlendem Ansprechen auf Analgetika: Triptan
- Schneller Wirkeintritt: Bspw. Sumatriptan oder Rizatriptan oder Zolmitriptan nasal
- Mittelschneller Wirkeintritt, längere Wirkdauer: Bspw. Sumatriptan oder Zolmitriptan oral
Status migraenosus
- Definition: Anhaltende Migräneattacke mit einer Dauer >72 h
- Therapie des Status migraenosus: Corticosteroid als Einmalgabe, z.B. Prednisolon oder Dexamethason
Clusterkopfschmerzattacke
- Epidemiologie
- Altersgipfel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr
- Männer drei- bis viermal häufiger betroffen als Frauen
- Cluster meist gehäuft im Frühjahr und Herbst, dazwischen oft lange symptomfreie Phasen
- Klinik/Symptome
- Periorbital bis supraorbital und streng einseitig lokalisierte Schmerzen in maximaler Intensität und oft als stechend bis bohrend und brennend beschriebener Qualität
- In zeitlichen Clustern auftretende Attacken mit einer Dauer von 15–180 min, bis zu 8×/Tag, auch aus dem Schlaf heraus
- Auffällige ipsilaterale konjunktivale Injektion, Lakrimation, Rhinorrhö
- Patienten meist gekennzeichnet durch ausgeprägte motorische Unruhe
- Akuttherapie
- Inhalation von 100% Sauerstoff 12 L/min über Gesichtsmaske mit Rückatembeutel über 15–20 min
- Triptan : Bspw. Sumatriptan oder Zolmitriptan nasal
- Lidocain-Lösung 4–10% intranasal ipsilateral