Zusammenfassung
Operative Eingriffe bei alten oder sehr alten Personen werden aufgrund des demografischen Wandels immer häufiger. Für die perioperative Versorgung müssen neben den physiologischen Veränderungen im Alter auch eine veränderte Pharmakokinetik bzw. -dynamik sowie altersbedingte Begleiterkrankungen berücksichtigt werden. Dies erfordert eine gezielte präoperative Evaluation mit Erfassung von Risikofaktoren (bspw. Multimorbidität, Frailty, Malnutrition) oder vorbestehender kognitiver Defizite sowie eine präoperative Optimierung insb. bei Polypharmazie. Intraoperativ ist eine individuelle Narkoseführung mit Erhalt der Homöostase essenziell. Die postoperative Versorgung zielt auf eine schnelle Mobilisation und Reduktion postoperativer Komplikationen wie Delir oder Stürze.
Definition
- Definition des „alten Menschen“ [1]
- Uneinheitliche Angaben in der Literatur, keine universelle Definition vorhanden
- Teilweise Vermischung der Begriffe „alt“, „hochbetagt“, „frail“ und „geriatrisch“
- Basierend auf dem chronologischen Lebensalter: Üblicherweise ≥65 Jahre in Ländern des Globalen Nordens
- Alternative Definitionen: Berücksichtigung bspw. gesundheitlicher oder sozioökonomischer Faktoren
- Definitionen verschiedener Alters-Subgruppen
- „Junge Alte“ 55–65 Jahre [2]
- „Ältere Menschen“ 65–79 Jahre [2]
- „Hochbetagte“ ≥80 Jahre
- „Höchstbetagte“ >90 Jahre
- Für die Definitionen von „Frailty“ und „geriatrisch“ siehe: Geriatrischer Patient
Anatomische und physiologische Grundlagen
Allgemeine Alterungsprozesse [3][4]
- Zellteilungsrate↓ [5]
- Proteinsynthese↓
- Immunologische Funktion↓
- Körperfettanteil↑
- Gesamtkörperwasser↓
- Quergestreifte Muskelmasse↓ (Sarkopenie)
- Geschwindigkeit der Stoffwechselprozesse↓
- Organfunktionen↓ [5]
Anästhesierelevante physiologische Veränderungen im Alter [3][5]
Anästhesierelevante physiologische Veränderungen im Alter | ||
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Organsystem | Physiologische Veränderung | Anästhesiologische Relevanz |
Respiratorisches System |
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Kardiovaskuläres System |
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Gastrointestinales System |
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Renales System |
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Nervensystem und Sinnesorgane |
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Thermoregulation |
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Pharmakokinetik und -dynamik [7][8]
- Pharmakokinetik
- Absorption: Verminderte Resorption oral verabreichter Medikamente [5]
- Distribution
- Körperwassergehalt↓→ Verteilungsvolumen für hydrophile Pharmaka↓ → Wirkungsdauer↑, Wirkungsstärke↑ → Erforderliche Dosis↓
- Körperfettgehalt↑ → Verteilungsvolumen für lipophile Pharmaka↑ → Elimination verzögert → Wirkungsdauer↑
- Albuminkonzentration↓ → Freier Anteil proteingebundener Pharmaka↑
- HZV↓ → Spitzenkonzentration↑ nach Gabe als i.v. Bolus, Zirkulationszeit im Kreislauf↑ [5]
- Metabolisierung: Leberfunktion↓ → Biotransformation von Pharmaka↓ → Wirkungsdauer↑
- Exkretion: Nierenfunktion↓ → Elimination von Pharmaka↓ → Wirkungsdauer↑
- Pharmakodynamik
- Veränderte Rezeptoraffinität bzw. -menge → Veränderte Empfindlichkeit gegenüber Pharmaka
- Interaktion mit der Vormedikation (insb. bei Polypharmazie)
- Siehe auch:
Präoperative Anamnese und Diagnostik
Anamnese [5]
- Allgemeine Anamnese und Untersuchung in der Anästhesiologie
- Fokus der (Fremd‑)Anamnese auf
- Vorerkrankungen, insb. häufig auftretende wie
- Arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus Typ 2
- Muskuloskelettale Erkrankungen (Arthrose, Osteoporose, chronische Schmerzen)
- Herzinsuffizienz, Z.n. Herzinfarkt oder Schlaganfall
- Komplizierte Infekte, Wundheilungsstörungen
- Neurodegenerative Erkrankungen, Depression
- Vormedikation (häufig Polypharmazie)
- Risikofaktoren für Stürze: Schwindel, Synkopen
- Vorerkrankungen, insb. häufig auftretende wie
- Sichtung von Vorbefunden
- Frühere Narkosen oder Krankenhausaufenthalte
- Berücksichtigung etwaiger Besonderheiten bei der Gesprächsführung, bspw. [7]
- Einschränkungen des Hör- und Sehvermögens
- Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten [9][10]
Körperliche Untersuchung
- Auskultation der Lunge
- Herzauskultation
- Weitere körperliche Untersuchung mit Fokus auf
- Begleiterkrankungen
- Potenziell schwierige Atemwegsverhältnisse, insb. Zahnstatus
- Venenstatus
- Bei geplanter Regionalanästhesie: Begutachtung möglicher Punktionsstellen
Diagnostik [7][11]
- Prinzipiell keine routinemäßige Diagnostik nur aufgrund des Alters
- Weitere gezielte präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen je nach Fragestellung
- EKG: Sinnvoll als Referenz für spätere Befunde, jedoch nicht geeignet zur Vorhersage kardialer Komplikationen bei Älteren
- Röntgen-Thorax: Abhängig von Vorgeschichte und klinischem Zustand
- Laboruntersuchungen: Empfohlen zum Ausschluss einer chronischen Niereninsuffizienz oder Anämie [11][12]
- Kardiale Biomarker : Empfohlen für Personen ≥65 Jahren vor Eingriffen mit mittlerem oder hohem eingriffsbezogenen Risiko
- Siehe auch: Diagnostik vor elektiven, nicht-herzthoraxchirurgischen Eingriffen
Risikoevaluation
- Altersbedingtes Risiko
- Anstieg der perioperativen Morbidität und Mortalität mit zunehmendem Alter und Vorerkrankungen [5]
- Frailty und Begleiterkrankungen entscheidender als rein kalendarisches Alter [5]
- Große interindividuelle Variabilität der Organfunktion [7]
- Kardiales Risiko, bspw. über
- NYHA-Klassifikation [5][7]
- Geriatric-Sensitive Perioperative Cardiac Risk Index (GSCRI) [13]
- Pulmonales Risiko, bspw. über ARISCAT-Score
- Screening auf spezifische Risiken (empfohlen für Personen ≥65 Jahre) [2]
- Malnutrition, bspw. mittels Nutritional risk screening 2002
- Kognitive Dysfunktion, bspw. mittels DemTect oder Mini-Mental-Status-Test [5]
- Gebrechlichkeit, bspw. mittels Clinical Frailty Scale (CFS) [11]
- Risikofaktoren für ein postoperatives Delir
Für die perioperative Morbidität und Mortalität ist die Frailty entscheidender als das kalendarische Alter! [7]
Aufklärung
- Gezielte Aufklärung je nach Patientenstatus und geplanter OP
- Behandlungsziele und Patientenwille sorgfältig eruieren [7]
- Bei Bedarf: Einbeziehung Angehöriger bzw. anderer Vertrauenspersonen
- Ggf. Abfrage der Einwilligungsfähigkeit bzw. Betreuung
- Auswahl des Narkoseverfahrens [5][7]
Prinzipiell sind im hohen Alter sowohl eine TIVA als auch eine balancierte Anästhesie geeignet! [14]
Präoperative Vorbereitung [2][5]
- Ambulante Vorbereitungen zur präoperativen Optimierung
- Optimierung der Vormedikation [15][16]
- Potenziell inadäquate Medikation absetzen (PRISCUS-Liste bzw. Beers-Kriterien) [17]
- Bei Polypharmazie frühzeitige Vorstellung
- Ausschluss bzw. Optimierung einer präoperativen Anämie
- Je nach Ernährungszustand ggf. kohlenhydrathaltige Getränke verordnen
- Kognitiven Status dokumentieren
- Beratung zur Patientenverfügung
- Prehabilitation bereits präoperativ beginnen lassen, bspw. [11]
- Atemübungen mittels Atemtrainer
- Sturzprophylaxe bei Hochrisikopersonen
- Optimierung der Vormedikation [15][16]
- Klinische präoperative Vorbereitungen
- Geriatrische Fachabteilung einbinden bei Risikokonstellationen [7]
- Vormedikation ggf. absetzen, siehe auch: Perioperativer Umgang mit Vormedikation
- Vor- und Nachteile bei rückenmarksnaher Regionalanästhesie unter Antikoagulation abwägen
- Patient Blood Management
- Präoperative Nüchternzeiten beachten bzw. minimieren
- Medikamentöse Prämedikation möglichst vermeiden (insb. langwirksame Benzodiazepine)
- Delirprophylaxe
Ambulantes Operieren [5][18]
- Vorteile
- Allgemeine Vorteile ambulanter OPs
- Geringeres Risiko für postoperatives Delir
- Frühzeitige Mobilisation
- Bedingungen
- Allgemeine Voraussetzungen für eine ambulante OP
- Frailty-Grad maximal 5–6 (nach Clinical Frailty Scale)
- Keine aktive Infektion
- Kein kardiovaskuläres oder zerebrovaskuläres Ereignis in den letzten 6 Monaten
- Kein OSAS
- BMI ≤40 kg/m2
Anästhesiologische Besonderheiten
Die Anästhesie bei alten Personen erfordert ein individuelles Vorgehen je nach Allgemeinzustand, Vorerkrankungen und geplantem Eingriff. Die hier aufgeführten Informationen dienen einer allgemeinen Orientierung. Für spezifische Informationen zum Vorgehen bei bestimmten Krankheitsbildern siehe bspw.:
Monitoring
- Anästhesiologisches Basismonitoring [3]
- Nicht-invasive Blutdruckmessung [19][20]
- EKG, ggf. als 7-Kanal-EKG
- Pulsoxymetrie, Kapnometrie
- Temperaturmessung
- Relaxometrie (bei Verwendung von Muskelrelaxanzien) [21]
- Erweitertes Monitoring: Großzügige Indikation für [7]
- Invasive arterielle Blutdruckmessung, BGA
- ZVK-Anlage, Bestimmung der szvO2
- Blasenkatheter mit Messung der Urinausscheidung
- Erweitertes hämodynamisches Monitoring
- Überwachung der Narkosetiefe, bspw. BIS-Monitoring
Dosierung von Medikamenten
Allgemeinanästhetika
Übersicht gängiger Allgemeinanästhetika im Alter [5][7][8] | |||||
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Gruppe | Medikament | Relevante Pharmakokinetische und -dynamische Veränderungen | Anpassung der Dosierung | ||
Inhalationsanästhetika |
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Injektionsanästhetika |
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Muskelrelaxanzien und Sugammadex
Übersicht gängiger Muskelrelaxanzien im Alter [5][8][24] | |||||
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Gruppe | Medikament | Relevante Pharmakokinetische und -dynamische Veränderungen | Anpassung der Dosierung | ||
Muskelrelaxanzien |
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Komplexbildner für Muskelrelaxanzien |
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Opioide
Übersicht gängiger Opioide im Alter [5][8] | |||||
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Gruppe | Medikament | Relevante Pharmakokinetische und -dynamische Veränderungen | Anpassung der Dosierung | ||
Opioide |
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Lokalanästhetika
Übersicht gängiger Lokalanästhetika im Alter [5][8] | |||||
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Gruppe | Medikament | Relevante Pharmakokinetische und -dynamische Veränderungen | Anpassung der Dosierung | ||
Lokalanästhetika |
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Allgemeinanästhesie
- Allgemeine Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Homöostase [2]
- Vermeidung bzw. Therapie einer perioperativen Hypotonie
- Sicheren und ausreichend großlumigen peripheren Venenzugang legen
- Ausreichender Preload ohne Volumenüberladung (Normovolämie anstreben) [7]
- Elektrolytstörungen vermeiden bzw. ausgleichen, insb. Hypo- und Hyperkaliämie
- Erhalt der Normothermie: Temperaturmessung, Wärmemaßnahmen rechtzeitig beginnen (Prewarming)
- Delirprophylaxe unmittelbar perioperativ
- Vermeidung bzw. Therapie einer perioperativen Hypotonie
- Narkoseeinleitung [3]
- Individuelle Dosierung anästhesiologischer Medikamente im Alter
- Vermeidung von Medikamenten mit delirogenem Potenzial
- Atemwegsmanagement und Beatmung [3]
- Zahnlosigkeit als Prädiktor für eine schwierige Maskenbeatmung
- Refluxneigung beachten
- Normoventilation, ggf. milde Hyperkapnie
- Narkoseführung
- Vorausschauende Narkoseführung
- Atemdepression durch Anästhetika- bzw. Relaxansüberhang vermeiden
- Systemische Opioide am Narkoseende sparsam einsetzen
- Rechtzeitig suffiziente postoperative Schmerztherapie beginnen
- Engmaschige (arterielle) Blutdruckmessung
- Ggf. medikamentöse Kreislaufunterstützung
- Bei Kapnoperitoneum: Reduzierten venösen Rückstrom beachten [7]
- Monitoring der Narkosetiefe und Vermeidung von Awareness [8]
- Vorausschauende Narkoseführung
- Extubation
- Zum grundlegenden Vorgehen siehe: Extubationskriterien und Extubation
- Zu beachten: Erhöhtes Risiko für stille Aspiration , Atemdepression, Emergence-Delir
Ziel ist eine frühe Detektion von Störungen und die konsequente Aufrechterhaltung der Homöostase!
Regionalanästhesie
- Allgemeine Überlegungen [8][25]
- Regionalanästhesieverfahren immer erwägen [26]
- Auch in Kombination mit einer Allgemeinanästhesie sinnvoll
- Empfohlene Sicherheitsabstände bei rückenmarksnaher Regionalanästhesie unter Antikoagulation beachten
- Bei erforderlicher Analgosedierung Dosisanpassung beachten
- Rückenmarksnahe Regionalanästhesieverfahren
- Punktionsstelle und -technik
- Anlage kann erschwert sein
- L5/S1 erwägen bei schwerer Arthrose oder starker Kalzifizierung des Lig. flavum
- Periduralanästhesie: Paramediane Punktion erwägen bei Kalzifizierung des Lig. flavum
- Dosierung der Lokalanästhetika
- Spinalanästhesie: Geringeres Injektionsvolumen notwendig
- Gefahr erhöhter Plasmaspiegel und erhöhtes Risiko für LAST
- Verstärkte Reaktion auf Sympathikolyse, insb. bei vorbestehendem Volumenmangel
- Punktionsstelle und -technik
- Periphere Regionalanästhesieverfahren: Verlängerte Wirkdauer der Lokalanästhetika beachten
Wärmemanagement
- Hintergrund: Erhöhtes Risiko für perioperative Hypothermie bei Lebensalter >60 Jahre [27]
- Maßnahmen
- Präoperativ
- Auskühlen verhindern
- Ggf. aktive Wärmemaßnahmen beginnen
- Intraoperativ
- Kontinuierliche Temperaturmessung, Ziel: 36,5–37,0 °C
- Möglichst große Körperoberfläche abdecken
- Infusionslösungen anwärmen
- Konvektive Wärmedecken nutzen
- Postoperativ: Ggf. Wärmemaßnahmen fortsetzen
- Präoperativ
- Siehe auch: Perioperative Hypothermie
Postoperatives Management
Allgemeine Grundsätze [2][7]
- Frühe Mobilisation anstreben
- Sturzprophylaxe
- Überwachung der tatsächlichen Nahrungsaufnahme bzw. Trinkmenge
- Krankenhausverweildauer minimieren
- Sorgfältiges Entlassmanagement, insb. bei kognitiver Beeinträchtigung
Delirscreening und -therapie [2]
- Delirscreening, bspw. mittels Nu-DESC
- Unmittelbar postoperativ im Aufwachraum beginnen
- Bis zum 5. postoperativen Tag auf Station fortsetzen
- Nicht-medikamentöse Therapieoptionen des Delirs ausschöpfen
- Ggf. medikamentöse Therapieoptionen des Delirs
- Delir-Prophylaxe(!)
- Siehe auch: Postoperatives Delir
Postoperative Schmerztherapie [8]
- Erfassung des Schmerzniveaus mittels Numeric Rating Scale bzw. Fremdeinschätzung bei Demenz [5]
- Systemische Opioide gering halten [5]
- Nicht-Opioid-Analgetika ausschöpfen
- Regionalanästhesiologische Verfahren nutzen
- Siehe auch:
Für die Schmerztherapie im höheren Alter gilt der allgemeine Grundsatz: „Start low, go slow“!