Zusammenfassung
Mehr als 3 Mrd. Menschen werden jährlich mit dem Flugzeug befördert, darunter zunehmend auch ältere und/oder vorerkrankte Personen. Dennoch kommt es statistisch gesehen nur bei einem pro 10.000–40.000 beförderten Passagier:innen zu einem medizinischen Notfall. Meistens handelt es sich dabei um harmlose Zwischenfälle, die sich gut mit den an Bord vorhandenen Möglichkeiten behandeln lassen. Generell besteht in den meisten Ländern eine gesetzliche Verpflichtung zum Leisten von Notfallhilfe, die auch an Bord eines Flugzeugs und insb. für Ärztinnen und Ärzte gilt. Die entsprechenden ärztlichen Tätigkeiten sind dabei i.d.R. über die Haftpflichtversicherung der Fluggesellschaft gegen Regressansprüche der behandelten Person versichert. Der Umfang der medizinischen Ausstattung von Verkehrsflugzeugen (Minimalstandard) wird durch die jeweiligen Luftfahrtbehörden vorgegeben, die tatsächliche Ausstattung variiert je nach Fluggesellschaft. Als erschwerende Faktoren bei der Versorgung medizinischer Notfälle sind u.a. die engen Platzverhältnisse an Bord sowie mögliche Sprachbarrieren zu nennen. Bei lebensbedrohlichen Krankheitsbildern kann eine außerplanmäßige Zwischenlandung erwogen werden; die entsprechende Entscheidung liegt jedoch allein bei der Pilotin bzw. dem Piloten.
Epidemiologie
- Inzidenz medizinischer Not- bzw. Todesfälle im Flugzeug (orientierende Werte) [1]
- Medizinische Notfälle: 1 pro 10.000–40.000 beförderte Passagier:innen
- Reanimationen und Todesfälle: 1 pro 5.000.000–10.000.000 beförderte Passagier:innen
- Kontext: Gehäuftes Vorkommen medizinischer Notfälle (>70%) auf Interkontinentalflügen [1]
- Relevanz: Meistens „harmlose“ Zwischenfälle mit guter Behandlungsmöglichkeit an Bord
- Häufigste Notfälle [2][3]
- Synkope, Präsynkope (ca. 30–37%)
- Gastrointestinale Beschwerden (ca. 10–15%)
- Respiratorische Beschwerden (ca. 10%)
- Kardiovaskuläre Beschwerden (ca. 7%)
- Neurologische Symptome (ca. 5%)
- Psychiatrische Symptome (ca. 3%)
- Infektionen (ca. 3%)
- Allergische Reaktionen (ca. 2%)
- Geburtshilfliche Notfälle (<1%)
- Herz-Kreislauf-Stillstand (ca. 0,2%)
Geht man von einer Inzidenz von einem Notfall pro 10.000 Passagier:innen und 400 Passagier:innen pro Flug aus, so besteht eine Wahrscheinlichkeit von 95% alle 24 Interkontinentalflüge, einen medizinischen Notfall an Bord zu erleben!
Medizinische Notfälle im Flugzeug sind meistens nicht lebensbedrohlich und lassen sich gut mit den an Bord vorhandenen Möglichkeiten behandeln!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Pathophysiologie
- Niedriger Kabinenluftdruck (in Reiseflughöhe)
- Gasexpansion in lufthaltigen Kompartimenten → Barotrauma
- Häufig als Druckgefühl im Bereich von Mittelohr, Nasenneben- oder Stirnhöhlen spürbar
- Potenziell problematisch bei Vorliegen unphysiologischer Luft- oder Gaseinschlüsse
- Abfall des Sauerstoffpartialdrucks
- Milde Hypoxie
- Kompensatorischer Anstieg von Herz- und Atemfrequenz
- Verminderte Luftfeuchtigkeit → Leichtgradig erhöhter Flüssigkeitsbedarf
- Gasexpansion in lufthaltigen Kompartimenten → Barotrauma
- Eingeschränkte Platzverhältnisse und Immobilisation
- Auftreten hydrostatischer Ödeme und venöser Thromben möglich
- Bei Klaustrophobie Auslösen einer Panikattacke möglich
Je länger ein Flug dauert, desto eher können die besonderen Verhältnisse an Bord eines Flugzeugs medizinisch relevant werden!
Rechtliche Grundlagen
Allgemeine Hinweise
- Rechtliche Rahmenbedingungen richten sich nach dem Zulassungsland des Flugzeugs („Flag Right“)
- Gesetzliche Verpflichtung zum Leisten von Notfallhilfe in vielen Ländern
- Verpflichtung gilt dabei grundsätzlich für alle Personen , aber
- Ärzt:innen können bei medizinischen Notfällen bevorzugt betroffen sein
- Regelung in Deutschland über § 323c Strafgesetzbuch: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ [5]
- Furcht vor Schadensersatzforderungen oder mangelnde fachliche Expertise sind keine Rechtfertigung oder Entschuldigung für eine unterlassene Hilfeleistung
- Zumindest „behelfsmäßige“ Untersuchung und Versorgung wird von jedem Arzt bzw. jeder Ärztin gefordert
An Bord eines Flugzeugs gelten die rechtlichen Bestimmungen des entsprechenden Zulassungslandes!
In den meisten Ländern besteht eine gesetzliche Verpflichtung zum Leisten von Notfallhilfe!
Haftung und Vergütung
- Absicherung vor medizinisch begründeten Schadensersatzforderungen i.d.R. gegeben durch
- Enthaftung ärztlicher Tätigkeiten an Bord eines Flugzeugs
- Haftungsprivilegierung bei der Behandlung medizinischer Notfälle
- Anspruch auf Vergütung der ärztlichen Leistungen gegenüber der Fluggesellschaft besteht nicht
Bei der Behandlung eines medizinischen Notfalls an Bord eines Flugzeugs haften Ärzt:innen typischerweise nur bei vorsätzlicher Schädigung oder grober Fahrlässigkeit!
Außerplanmäßige Zwischenlandung
- Ärzt:innen können lediglich eine Empfehlung für eine Zwischenlandung aussprechen [6]
- Entscheidung (und damit auch Verantwortung) liegt allein bei der Pilotin bzw. dem Piloten
- Mehrkosten werden grundsätzlich von der Fluggesellschaft getragen, außer bei
- Vorliegen einer vorsätzlich falschen ärztlichen Empfehlung
- Antreten der Flugreise der behandelten Person trotz vorab bekannter ärztlicher Bedenken
Die Entscheidung, ob eine außerplanmäßige Ausweich- bzw. Zwischenlandung durchgeführt wird oder nicht, liegt allein bei der Pilotin bzw. dem Piloten!
Medizinische Ausstattung von Verkehrsflugzeugen
Allgemeine Hinweise
- Festlegung eines Minimalstandards durch die jeweiligen Luftfahrtbehörden
- Europa: European Aviation Safety Agency (EASA) und Joint Aviation Authorities (JAA)
- USA: Federal Aviation Administration (FAA)
- Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch die Fluggesellschaften
- Tatsächliche medizinische Ausstattung geht häufig über den Minimalstandard hinaus
- Medizinische Zwischenfälle werden kontinuierlich analysiert und die Ausstattung ggf. angepasst
- Regelmäßige medizinische Schulungen und Trainings der Besatzung
- Im Notfall häufig auch bodengebundene medizinische Beratung möglich
Die medizinische Ausstattung von Verkehrsflugzeugen geht häufig über den gesetzlich vorgeschriebenen Minimalstandard hinaus!
Das Mitführen eines automatischen externen Defibrillators ist für europäische Fluggesellschaften gesetzlich nur bei Flugreisen in die USA vorgeschrieben!
Beispielhafte Ausstattung
„Doctor's Kit“ der Lufthansa [6] | ||
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Modul | Inhalt | |
Diagnostik |
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Infusion |
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Blasenkatheter |
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Absaugung |
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Intubation |
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Beatmung |
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Medikamente | Ampullen-Set |
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Sonstige |
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Häufige Notfälle und praktisches Vorgehen
Allgemeines Vorgehen
- Persönliche Vorstellung
- Mit Namen, Ausbildungsgrad und ggf. Fachrichtung bei Flugpersonal und betroffener Person
- Ggf. Patienteneinwilligung einholen
- Privatsphäre berücksichtigen
- Bei Anwesenheit weiterer Freiwilliger: Kollegiales Gespräch zum optimalen Einsatz der jeweiligen Fähigkeiten
- Notfallkoffer erfragen
- Anamnese: Bei erhaltenem Bewusstsein
- Aktuelle Beschwerden, Vorerkrankungen, Dauermedikation
- Medikation (bspw. Beruhigungsmittel) für den Flug eingenommen?
- Patienteneigene Notfallmedikation vorhanden?
- Ausreichend getrunken?
- Untersuchung
- Vitalparameter: Sauerstoffsättigung, Blutdruck (je nach vorhandener Geräteausstattung)
- Körperliche Untersuchung: Gezielt je nach Beschwerdebild
- Besonderheiten an Bord
- Milde Hypoxie bei verringertem Kabinenluftdruck [1][8]
- Normale Sauerstoffsättigung in Reiseflughöhe bei gesunden Erwachsenen ca. 90–95%
- Konsequenz für die Sauerstoffgabe bei spontan atmenden Personen: Zielbereich der Sauerstoffsättigung liegt bei ca. 94–98%
- Erschwerte Auskultation (laute Kabinengeräusche!): Ermittlung des Blutdrucks bevorzugt palpatorisch bzw. visuell statt auskultatorisch
- Verfälschung körperlicher Untersuchungsergebnisse durch starke Vibrationen möglich
- Milde Hypoxie bei verringertem Kabinenluftdruck [1][8]
- Optimierung der Bedingungen
- Bei erhaltenem Bewusstsein: Patientenzustand berücksichtigen bzw. bequeme Lagerung anstreben
- Ggf. Umlagerung in Küche oder Toilettenvorraum
- Stabilisierung der emotionalen Situation
- Deutliche Kommunikation mit Kabinenpersonal und Patient:in
- Ggf. medizinische Unterstützung am Boden kontaktieren
Bei normalem Kabinenluftdruck ist eine Sauerstoffsättigung von ca. 90–95% normal! [1][8]
Bei fehlendem Bewusstsein und Herz-Kreislauf-Stillstand sollten Reanimationsmaßnahmen nicht verzögert werden!
Spezifisches Vorgehen
Spezifisches Vorgehen bei den häufigsten medizinischen Notfällen im Flugzeug | ||
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Symptom bzw. Diagnose | Vorgehen und Einschätzung | Weiterführende Informationen |
(Prä‑)Synkope |
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Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö |
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Dyspnoe, Asthma |
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Thoraxschmerz, akutes Koronarsyndrom, Herzrhythmusstörungen |
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Epileptischer Anfall |
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Schlaganfall |
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Psychiatrische Symptome |
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Fieber |
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Allergische Reaktion |
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Trauma/Verletzungen, Kopfschmerzen |
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Geburtshilfliche Notfälle | ||
Herz-Kreislauf-Stillstand |
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Weiteres Prozedere
- Außerplanmäßige Zwischenlandung erwägen
- Ausschließlich beratende Funktion, siehe auch: Medizinische Notfälle im Flugzeug - Rechtliche Grundlagen
- Mögliche abzuwägende Faktoren
- Weiterflug führt häufig nicht zur signifikanten Verzögerung [9]
- Eine Landung kann bis zu 30 min dauern
- Nächstgelegener Flughafen ist ggf. nicht adäquat medizinisch ausgerüstet
- Möglichkeiten zum Weitertransport können am Zielflughafen besser sein
- Anforderungen an die medizinische Infrastruktur einschätzen
- Dokumentation
Potenzielle Kontraindikationen für eine Flugreise
- Akute/ansteckende Infektionskrankheiten
- Dekompensierte Herz- oder Lungenerkrankungen
- Instabile Epilepsien
- Kürzlich zurückliegende Operationen
- Akute Psychosen
- Ileus
- Intraokuläres Gas bzw. intrakranielle Lufteinschlüsse
- Schwangere: Komplikationen oder ≥36. SSW bzw. ≥32. SSW bei Mehrlingsschwangerschaft
Die International Air Transport Association (IATA) empfiehlt diagnosespezifische Zeitintervalle vor Antritt einer Flugreise. Bei konkreten Fragen zur Flugreisetauglichkeit können sich Ärzt:innen mit dem medizinischen Dienst der Fluggesellschaft beraten!