Zusammenfassung
Das Sjögren-Syndrom ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung aus dem Formenkreis der Kollagenosen, die hauptsächlich die Tränen- und Speicheldrüsen betrifft und meist bei Frauen auftritt. Die verminderte Speichel- und Tränenproduktion führt zu den Leitsymptomen trockener Mund und trockene Augen (sog. Sicca-Syndrom). Zudem können systemische Symptome wie Gelenkschmerzen auftreten, seltener sind auch die inneren Organe, das Nervensystem oder die Gefäße betroffen. Es wird zwischen primärem Sjögren-Syndrom mit unbekannter Ursache und sekundärem Sjögren-Syndrom mit Assoziation zu anderen chronischen Erkrankungen (bspw. rheumatoide Arthritis) unterschieden. Bei sekundären Formen wird die Grundkrankheit behandelt, während bei primären Formen eine rein symptomatische Behandlung indiziert ist. Bei Beteiligung von inneren Organen oder Gefäßen kommen Immunsuppressiva zum Einsatz.
Epidemiologie
- Geschlecht: ♀ > ♂ (etwa 10:1) [1][2]
- Insb. Frauen im Klimakterium
- Alter: Mittleres Erkrankungsalter 50–60 Jahre
- Prävalenz: 0,4% [1][2][3]
- Primäres Sjögren-Syndrom: Ca. 0,01%
- Inzidenz: 400/100.000 Personen/Jahr [4][5]
- Primäres Sjögren-Syndrom: 5–9/100.000 Personen/Jahr
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Primäres Sjögren-Syndrom
- Idiopathisch
- Ggf. Einfluss verschiedener Faktoren [6]
- Genetische Prädisposition
- Epigenetische Modifikationen: Hormone, Umweltfaktoren, Immundysregulation
Sekundäres Sjögren-Syndrom
Pathophysiologie
Entzündung glandulärer Epithelzellen (Autoimmunepithelitis) → Apoptose der Epithelzellen → Freisetzung von Autoantigenen → Über Zytokine wie u.a. Interferon Typ I, IL-12 und B‑Zell-Aktivierungsfaktor (BAFF) Stimulation des spezifischen Immunsystems (CD8+-T-Lymphozyten und B‑Lymphozyten) → Entstehung sog. Keimzentren mit reifen Plasmazellen, die Autoantikörper produzieren → Antikörper gegen Muskarinrezeptoren führen zu einer Blockade und somit zu einer Fehlfunktion der Drüsen
Symptomatik
Lokale Symptome
- Verminderte Drüsensekretion
- Sicca-Syndrom: Symptomkonstellation aus trockenem Mund (Xerostomie) und trockenem Auge (Xerophthalmie), häufigste Erstmanifestation des Sjögren-Syndroms
- Entzündung der Speicheldrüsen
- Verminderte Speichelproduktion → Xerostomie → Vermehrte Kariesbildung und orale Candidosen
- In ca. 30% Parotisschwellung (meist beidseitig)
- Entzündung der Tränendrüsen: Verminderte Tränensekretion → Xerophthalmie → Keratoconjunctivitis sicca
- Entzündung weiterer Drüsen: Verminderte Produktion von Scheidensekret (trockene Scheide) → Vaginitis sicca → Störung der Sexualfunktion
Systemische Symptome
- Häufigste Manifestationen (zusammen mit Sicca-Symptomatik)
-
Fatigue, Leistungsminderung (70%) [7]
- Neurokognitive Leistungsminderung (ca. 30%)
- Muskuloskelettale Schmerzen, Arthralgien, nicht-erosive Polyarthritis (50%) [1]
-
Fatigue, Leistungsminderung (70%) [7]
- Weitere Manifestationen
- Depression (30–50%) [8]
- Neurologische Manifestation
- Sekundäres Raynaud-Syndrom (20%) [5]
-
Vaskulitis der kleinen und mittleren Gefäße (10%) [9]
- Palpable Purpura der Beine
- Rezidivierende Urtikaria, Hautulzera
- Glomerulonephritis
- Lungenbeteiligung (10–20%) [10]
- Trockener Reizhusten: Hinweis auf interstitielle Lungenerkrankung (im Verlauf ggf. fibrotischer Umbau des Lungengewebes)
- Bronchiolitis
- Generalisation mit Lymphknotenbeteiligung (Pseudolymphom)
- Selten betroffene Organe
Diagnostik
- Anamnese
- Xerophthalmie >3 Monate und/oder
- Xerostomie >3 Monate
- Blutuntersuchung
- Allgemein: BSG↑
- Fakultativ: Anämie, Leukopenie, Thrombozytopenie
- Immunologische Befunde
- Spezifisch
-
Anti-SSA(Ro)-Antikörper (ca. 50–60% der Fälle) und Anti-SSB(La)-Antikörper (ca. 25–30% der Fälle)
- Anti-SSB(La)-Antikörper sind spezifischer, treten aber meist nur in Kombination mit Anti-SSA(Ro)-Antikörpern auf
- Korrelation mit frühem Krankheitsbeginn, stärkerer Gewebeinfiltration und häufigerem Auftreten von extraglandulären Manifestationen
- Antikörper gegen Epithelzellen der Speicheldrüsen
-
Anti-SSA(Ro)-Antikörper (ca. 50–60% der Fälle) und Anti-SSB(La)-Antikörper (ca. 25–30% der Fälle)
- Unspezifisch
- Erhebliche Hypergammaglobulinämie
- Rheumafaktoren positiv (ca. 50% der Fälle)
- Erhöhte ANA-Titer (ca. 80% der Fälle)
- Verlaufsparameter (insb. bei extraglandulären Manifestationen)
- Kryoglobuline
- Gesamtkomplement
- Freie Immunglobulin-Leichtketten
- β2-Mikroglobulin
- Siglec-1
- Siehe auch: Rheumatologische Antikörperdiagnostik
- Spezifisch
- Parotissonografie
- Nicht ausreichend validiert als Klassifikationskriterium
- Typischer Befund: Wolkenartige Struktur mit abwechselnd echoreichen und zystisch-echoarmen Strukturen
- Selten: Parotissialografie bzw. Speicheldrüsenszintigrafie
- Ophthalmologische Untersuchung
- Schirmer-Test: Verringerte Tränensekretion
- Spaltlampenuntersuchung
- Lissamingrün-/Fluoreszein-Test
- Speichelmessung
- Unstimulierter Gesamtspeichel-Test
- Veraltet: Saxon-Test zur Messung der Speichelproduktion, durchgeführt in der HNO
- Histologie
- Durchführung: Biopsie aus der Schleimhaut der inneren Unterlippe (alternativ Biopsie aus der Gl. parotidea)
- Befund
- Sialadenitis mit dichten lymphozytären Infiltraten
- Pathognomonisch: Periduktale lymphozytäre Infiltration im exokrinen Drüsengewebe bei sonst intakten Azini
- Mindestanzahl von 50 mononukleären Zellen/4 mm2 im mikroskopischen Gesichtsfeld
- Erweitere Diagnostik: Je nach klinischem Befund bei extraglandulären Manifestationen
- Gelenksonografie und ggf. Gelenkpunktion
- Lungenfunktionsuntersuchung und/oder HR-CT
- 6-Minuten-Gehtest
- Schädel-MRT, Elektroneurografie, Elektromyografie, Liquorpunktion
- Bei Schwangerschaft: Echokardiografische Kontrolle des fetalen Herzrhythmus
Diagnosestellung anhand der ACR/EULAR-Klassifikationskriterien 2016
ACR/EULAR-Klassifikationskriterien des primären Sjögren-Syndroms 2016 [11] | ||
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Einschlusskriterien: Augen- und/oder Mundtrockenheit seit mind. 3 Monaten ohne andere Ursache | ||
Klassifikationskriterien | Unstimulierter Gesamtspeichel-Test ≤0,1 mL/min | 1 Punkt |
Schirmer-Test auffällig (<5 mm in 5 min) | 1 Punkt | |
Pathologische Horn- und Bindehautschäden in der Lissamingrün- oder Fluoreszeinfärbung | 1 Punkt | |
Autoantikörper-Nachweis: Anti-SSA(Ro)-AK | 3 Punkte | |
Speicheldrüsenbiopsie mit fokaler lymphozytärer Sialadenitis mit ≥50 Lymphozyten/4 mm2 | 3 Punkte | |
Diagnosesicherung bei ≥4 Punkten | ||
Ausschlusskriterien: |
Differenzialdiagnosen
- Differenzialdiagnosen bei Sicca-Symptomatik
- Keratoconjunctivitis sicca
- Medikamenteninduziert: Anticholinergika, Antihistaminika, trizyklische Antidepressiva, Diuretika, Antihypertensiva
- Dysfunktion der Meibom-Drüsen, Rosazea
- Umweltfaktoren (Klimaanlage, Rauchen, PC-Arbeit, Kontaktlinsen)
- IgG4-assoziierte Erkrankung
- Chronische Virusinfektion: HIV oder Hepatitis C
- Altersbedingt (u.a. Menopause)
- Xerostomie
- Medikamenteninduziert: Anticholinergika, Antihistaminika, trizyklische Antidepressiva, Diuretika, Antihypertensiva
- Angststörung und endogene Depression
- Postradiogen nach Radiatio im Kopf-Hals-Gebiet
- Systemische Erkrankungen (Sarkoidose, Amyloidose, Lymphom, HCV, HIV)
- Akute / chronische Sialadenitis
- Keratoconjunctivitis sicca
- Differenzialdiagnosen der Parotisschwellung
- Einseitig
- Akute bakterielle Sialadenitis
- Sialolithiasis
- Parotistumor
- Halsabszess
- Laterale Halszyste
- Dentogene Infektion mit Abszedierung
- Beidseitig
- Einseitig
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemein
- Interdisziplinäres Therapiemanagement
- Bei sekundärem Sjögren-Syndrom: Behandlung der Grunderkrankung
Symptomatische Therapie
- Keratoconjunctivitis sicca
- Patientenschulung: Schutz der Augen vor Austrocknung, z.B.
- Brille als Windschutz verwenden
- Bildschirmarbeit möglichst reduzieren
- Anticholinergika vermeiden
- Augentropfen
- Befeuchtende Augentropfen
- Corticosteroidhaltige Augentropfen für maximal 2–4 Wochen
- Ciclosporin-A-Augentropfen
- Sekretagoga: Pilocarpin-Tabletten
- Zusätzlich: Ggf. Einsatz von Punctum-lacrimale-Plugs oder Sklerallinsen
- Patientenschulung: Schutz der Augen vor Austrocknung, z.B.
- Stomatitis sicca
-
Patientenschulung: Förderung der Speichelproduktion
- Viel trinken
- Kaugummi kauen, Bonbons lutschen
- Anticholinergika vermeiden
- Kariesprophylaxe mittels lokaler Fluoride
- Sekretagoga: Pilocarpin
- Elektrostimulation der Speicheldrüsen
-
Patientenschulung: Förderung der Speichelproduktion
- Rhinitis sicca
- Nasenöl
- Befeuchtende Nasensprays/-salben
- Schmerzen und/oder Fatigue: Körperliche Aktivität, insb. aerobes Ausdauertraining
- Bei chronischen muskuloskelettalen oder neuropathischen Schmerzen: Ggf. Antidepressiva und Anfallssuppressiva
Immunsuppressiva [1][9]
- Indikation: Bei systemischer Beteiligung, Bedarf abhängig von Krankheitsaktivität und betroffenem Organsystem
- Therapieprinzip
- Glucocorticoide als First-Line-Therapie bis zur Krankheitskontrolle (Remissionsinduktion)
- Andere Immunsuppressiva wie DMARD oder Biologika bei Glucocorticoidintoleranz oder zur Langzeittherapie (Remissionserhaltung)
- Organspezifische Empfehlungen
- Parotisschwellung
- Kurzzeitig: NSAR und niedrigdosierte orale Glucocorticoide
- Arthralgien bzw. Arthritis
- Hydroxychloroquin
- NSAR und kurzzeitig Glucocorticoide oral/intraartikulär
- Second-Line DMARD, v.a. Methotrexat
- Siehe auch: Rheumatoide Arthritis
- Lungenbeteiligung
- Glucocorticoide, inhalativ, oral oder i.v.
- Second-Line DMARD, v.a. Azathioprin
- Cyclophosphamid bei aktiver Alveolitis
- Pirfenidone und Nintedanib
- Siehe auch: Interstitielle Lungenparenchymerkrankungen
- Nierenbeteiligung
- Glucocorticoide
- Second-Line DMARD oder ggf. Rituximab
- Periphere Neuropathie
- Glucocorticoide, oral oder i.v.
- Second-Line DMARD oder Rituximab
- Immunglobuline i.v.
- ZNS-Beteiligung
- Glucocorticoide
- Second-Line Cyclophosphamid
- Kutane Beteiligung
- Glucocorticoide, topisch oder oral
- Ggf. Hydroxychloroquin
- Second-Line DMARD oder Rituximab
- Hämatologische Beteiligung
- Glucocorticoide
- Second-Line Rituximab
- Kryoglobulinämie mit Organvaskulitis
- Parotisschwellung
Neue Therapieansätze [1][9]
- Modulation der B-Zell-Hyperaktivität
- Inhibition der T-Zell-Costimulation
- Inhibition der Effektorzytokine
- Vermeidung der Ausbildung ektoper Keimzentren
- Januskinase-Inhibitoren
Komplikationen
- Hornhautulzeration
- Erhöhte Lymphom-Inzidenz (B-Zell-Lymphom, MALT-Lymphom): 5% bei primärem Sjögren-Syndrom
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M35.-: Sonstige Krankheiten mit Systembeteiligung des Bindegewebes
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.