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Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom

Letzte Aktualisierung: 19.4.2024

Zusammenfassungtoggle arrow icon

Beim chronischen Fatigue-Syndrom (auch myalgische Enzephalomyelitis oder ME/CFS) handelt es sich um eine komplexe multisystemische Erkrankung mit neurologischen, immunologischen, autonomen Störungen und Störungen des Energiestoffwechsels. Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt. Typisch für die Erkrankung ist ein akuter, postinfektiöser Beginn mit einer Fatigue, postexertioneller Malaise und einem allgemeinen Krankheitsgefühl. Die Betroffenen sind oftmals stark eingeschränkt in ihrer Leistungsfähigkeit im Alltag. Da es keine spezifischen Biomarker gibt und die typischen Symptome auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten, ist die Diagnosestellung schwierig und dauert häufig mehrere Jahre. Bisher gibt es keine kurative Therapie, Pacing, also eine geplante Energieeinteilung, macht ein besseres Management der Erkrankung möglich. Außerdem kann eine symptomatische Behandlung die Lebensqualität der Betroffenen erhöhen.

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Definitiontoggle arrow icon

Aktuell gibt es keine einheitliche Definition, sondern verschiedene Ansätze, die sich in diversen, teils synonym verwendeten Bezeichnungen widerspiegeln.

  • Definition: Chronische Erkrankung unklarer Ätiologie, die mit Fatigue, kognitiven Einschränkungen, postexertioneller Malaise und Schlafstörungen einhergeht
    • Einordnung durch die WHO: Neurologische Erkrankung
  • Historische Entwicklung der Nomenklatur: [1] Verschiedene Hypothesen zur Ätiologie haben zu einer Reihe verschiedener Bezeichnungen geführt
    • Benigne myalgische Enzephalomyelitis
      • Hintergrund: Epidemischer Ausbruch 1955 in London
      • Hypothese: Infektionskrankheit
    • Chronisches Epstein-Barr-Virus-Syndrom
      • Hintergrund: Nach mehreren akut postviralen Ausbrüchen 1982
      • Hypothese: Postinfektiöses Syndrom durch EBV
    • Postvirales Fatigue-Syndrom
      • Hintergrund: Erkrankungen im Zusammenhang mit anderen viralen Infekten 1985
      • Hypothese: Postinfektiöses Syndrom durch diverse Viren
    • Chronisches Fatigue-Syndrom
      • Hintergrund: Gehäufte Fälle unabhängig von viralen Infektionen 1988
      • Hypothese: Unklare Ätiologie, eher nicht ausschließlich postviral
    • Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS)
      • Hintergrund: Weiterhin unklare Ätiologie, Versuch der Vereinheitlichung im Rahmen der Kanadischen Konsens-Kriterien
      • Hypothese: Multifaktorielle organische Erkrankung, Fokus auf Neuroinflammation
    • Systemische Belastungsintoleranz-Erkrankung (SEID)
      • Hintergrund: Versuch der Entwicklung einheitlicher diagnostischer Kriterien auf Basis der verschiedenen Falldefinitionen durch das Institute of Medicine, USA, 2015
      • Hypothese: Multisystemerkrankung
  • Aktuell: Myalgische Enzephalomyelitis, chronisches Fatigue-Syndrom und ME/CFS werden synonym verwendet

Die Nomenklatur ist immer noch uneinheitlich. In Deutschland ist der Begriff „chronisches Fatigue-Syndrom“ für die Erkrankung weiterhin verbreitet, während in der Literatur aktuell meist die Abkürzung ME/CFS genutzt wird.

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Epidemiologietoggle arrow icon

  • Geschätzte Prävalenz [2]
    • Ca. 0,89% der Weltbevölkerung
    • Ca. 0,55% bei Kindern und Jugendlichen weltweit
    • Ca. 300.000–400.000 Betroffene in Deutschland [3]
  • Mittleres Erkrankungsalter: 29–35 Jahre [3]
  • Manifestationsalter [4]
    • 1. Häufigkeitsgipfel: 11–19 Jahre
    • 2. Häufigkeitsgipfel: 30–39 Jahre
  • Geschlecht: > (1,5–2:1) [2]
  • Einschränkungen [4] [5]
    • Ca. 25% der Betroffenen sind bettlägerig oder ans Haus gebunden
    • Ca. 75% der Betroffenen sind erwerbsunfähig oder können die Schule nicht besuchen

Die epidemiologischen Zahlen variieren stark je nach verwendeter Falldefinition!

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

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Ätiologietoggle arrow icon

Ätiologie und Pathomechanismus sind aktuell nicht geklärt. Es wurden bisher einige bekannte Auslöser der Erkrankung identifiziert. Zudem gibt es unterschiedliche Hypothesen bzgl. des Pathomechanismus.

Die Ätiologie ist immer noch unklar! Denkbar sind auch verschiedene Ätiologien, die zu einem ähnlichen Symptomkomplex führen.

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Symptomatiktoggle arrow icon

ME/CFS geht mit individuell unterschiedlichen Verläufen und einer ausgeprägten heterogenen Symptomatik einher.

Verlauf [8]

  • Beginn: Oft akut postinfektiös
  • Weiterer Verlauf
    • Besserung der Symptomatik möglich

Hauptsymptome [8]

Weitere Symptome [8]

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Diagnostiktoggle arrow icon

ME/CFS ist eine Ausschlussdiagnose. Bei Betroffenen mit dem Kardinalsymptom der chronischen Fatigue ist es wichtig, sekundäre Ursachen hierfür zunächst auszuschließen . Aktuell gibt es noch keine spezifischen Biomarker für die Erkrankung, daher bildet eine ausführliche Anamnese mithilfe eines Diagnosefragebogens die Grundlage der Diagnostik.

Zur Ausschlussdiagnostik [3]

Spezifische Diagnostik

Eine spezifische Diagnostik ist noch nicht etabliert. Üblich sind derzeit die sog. „Kanadischen Kriterien“.

Kanadische Kriterien für die Diagnose ME/CFS [9]

  • Dauer: Symptomatik seit mind. 6 Monaten ständig oder wiederkehrend
  • Notwendige Symptome
    • Neu aufgetretene , nicht anders erklärbare, kognitive oder körperliche Erschöpfung → Aktivität↓
      und
    • Verstärkung der Symptomatik nach Belastung nach einer Latenzzeit (PEM)
      und
    • Verstärkung der Symptomatik durch jegliche Art mentaler oder körperlicher Belastung
  • Mind. 1 der folgenden Symptome
  • Mind. 1 der folgenden Symptome
  • Mind. 2 der folgenden Symptome
    • Beeinträchtigung der Konzentrations- und Merkfähigkeit
    • Wahrnehmungs- und Sinnesstörung
    • Verwirrtheit
    • Bewegungskoordinationsstörung
    • Lesestörung, Wortfindungsstörung, Störungen der Informationsverarbeitung
    • Zu viele Sinneseindrücke führen zu Überbelastung
  • Mind. je 1 Symptom aus mind. 2 der folgenden Kategorien
    • Autonome Störung
    • Neuroendokrine Störung
      • Störung der Anpassung der Körpertemperatur
      • Erhöhte Sensibilität gegenüber Kälte oder Wärme
      • Appetitsteigerung oder -verlust, Gewichtszunahme oder -abnahme
      • Niedrige Blutzuckerspiegel
      • Stressintoleranz
    • Immunologische Störung
      • Schmerzhafte Lymphknoten
      • Wiederkehrende Halsschmerzen
      • Neu auftretende Allergien oder Veränderung bereits bestehender Allergien
      • Allgemeines Krankheitsgefühl
      • Überempfindlichkeit oder Unverträglichkeit von Medikamenten und/oder Chemikalien

Für den Diagnosefragebogen siehe: Diagnosefragebogen Kanadische Kriterien / Bell-Score [10]

ME/CFS ist eine Ausschlussdiagnose! Klinische Diagnosekriterien helfen dabei, die Diagnose zu stellen.

Labor [8]

Obwohl bisher noch keine spezifischen Biomarker zur Diagnostik von ME/CFS gefunden werden konnten, konnten Abweichungen bestimmter Laborparameter beobachtet werden. Bei Abweichung der Laborparameter sollten jedoch auch immer differenzialdiagnostische Überlegungen erwogen werden.

  • CK↓: Weist auf Schwere der Erkrankung und niedriges Aktivitätslevel hin
  • LDH↑, ALT↑ und AST
  • NT-proBNP↑: Weist auf ein geringeres Herzvolumen hin
  • IgG↓ (oder Erniedrigung IgG-Subgruppen), IgA↓, IgM

Messinstrument zur Einschätzung der Einschränkung bei ME/CFS (Bell-Score 1995)

Der Bell-Score kann eingesetzt werden, um die Einschränkung der Betroffenen durch die Erkrankung einschätzen zu können. Häufig wird diese im Alltag unterschätzt.

Bell-Score 1995 (Score zur Einschätzung der Einschränkung bei ME/CFS)
Bell-Score Symptomatik und Einschränkungen im Alltag
100
  • Keine Symptome in Ruhe und bei körperlicher Belastung
  • Normal aktiv
  • Betroffene können ohne Probleme Vollzeit arbeiten
90
  • Keine Symptome in Ruhe
  • Leichte Symptome bei körperlicher oder mentaler Belastung
  • Normal aktiv
  • Betroffene können ohne Probleme Vollzeit arbeiten
80
  • Leichte Symptome in Ruhe, verstärkt durch Belastung
  • Leistungseinschränkung durch belastende Tätigkeiten
  • Vollzeit arbeiten möglich mit Kraftanstrengung
70
  • Leichte Symptome in Ruhe
  • Deutliche Einschränkung bei Aktivitäten des täglichen Lebens
  • Funktioneller Zustand bei ca. 90% von Norm
  • Vollzeit arbeiten möglich mit Kraftanstrengung
60
  • Leichte Symptome in Ruhe
  • Funktioneller Zustand bei ca. 70–90% der Norm
  • Vollzeit arbeiten nur möglich bei leichten Arbeiten und flexiblen Arbeitszeiten
50
  • Mittelschwere Symptome in Ruhe
  • Mittelschwere bis schwere Symptome bei körperlicher Belastung und Aktivität
  • Funktioneller Zustand bei ca. 70% der Norm
  • 4–5 Stunden Schreibtischarbeit nur mit Ruhepausen möglich
40
  • Mittelschwere Symptome in Ruhe
  • Mittelschwere bis schwere Symptome bei körperlicher Belastung und Aktivität
  • Funktioneller Zustand bei ca. 50–70% der Norm
  • 3–4 Stunden Schreibtischarbeit nur mit Ruhepausen möglich
30
  • Mittelschwere bis schwere Symptome in Ruhe
  • Schwere Symptome bei Belastung und Aktivität
  • Funktioneller Zustand bei ca. 50% der Norm
  • Betroffenen bleiben i.d.R. zu Hause
  • 2–3 Stunden Schreibtischarbeit nur mit Ruhepausen möglich
20
  • Mittelschwere bis schwere Symptome in Ruhe
  • Schwere Symptome bei Belastung und Aktivität
  • Funktioneller Zustand bei ca. 30–50% der Norm
  • Nur selten in der Lage, das Haus zu verlassen
  • Meiste Zeit im Bett
  • Nur ca. 1 Stunde konzentrieren möglich
10
  • Schwere Symptome in Ruhe
  • Bettlägerig
  • Das Haus kann nicht verlassen werden
  • Starke kognitive Einschränkungen, daher Konzentration eingeschränkt
0
  • Immer schwere Symptome in Ruhe
  • Bettlägerig
  • Selbst zu kleinen Pflegemaßnahmen nicht in der Lage

Ausblick

Es gibt zwar vielfältige Hinweise auf nachweisbare organische Veränderungen, eine diagnostische Nutzung ist jedoch derzeit nicht etabliert!

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Differenzialdiagnosentoggle arrow icon

Aufgrund der heterogenen Symptomatik muss eine Reihe möglicher Differenzialdiagnosen bedacht werden. Zudem gibt es einige Erkrankungen, die komorbid auftreten können.

Komorbiditäten von ME/CFS [8]

Bei einigen der aufgelisteten Erkrankungen kann unklar sein, ob es sich um Komorbiditäten oder um Symptome von ME/CFS handelt. Sie schließen zumindest die Diagnose ME/CFS nicht aus.

Differenzialdiagnosen [8]

Falls die folgenden ebenfalls mit einer Fatigue-Symptomatik einhergehenden Erkrankungen klinisch kontrolliert sind, jedoch weiterhin zu ME/CFS passende Symptome vorhanden sind, können die Erkrankung auch als Komorbiditäten gewertet werden.

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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Therapietoggle arrow icon

Bisher gibt es keine spezifische Therapie für ME/CFS, jedoch gibt es Empfehlungen für das klinische Management der Erkrankung.

Der Einsatz von Medikamenten ist immer ein Off-Label Use! Medikamente sollen immer niedrig eindosiert werden, da ME/CFS-Betroffene häufig eine Arzneimittelunverträglichkeit haben!

Mehr Aktivität und Sport verschlimmern i.d.R. die Symptome. Das kann ggf. zur Abgrenzung von einer Depression helfen!

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Prognosetoggle arrow icon

Bisher gibt es noch wenige Langzeitstudien bzgl. der Prognose von ME/CFS.

  • Langzeitverlauf
    • Häufig Besserung der Symptome nach einigen Jahren (evtl. besseres Management der Symptome)
    • Remission selten
    • Psychiatrische Komorbidität bzw. anhaltende Symptomfokussierung → Schlechtere Prognose
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AMBOSS-Podcast zum Thematoggle arrow icon

Long-COVID (1): Zahlen, Risikofaktoren, Erklärungsmodelle (Dezember 2023)

Long-COVID (2): Aufklären, behandeln, weitervermitteln (Dezember 2023)

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Patienteninformationentoggle arrow icon

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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025toggle arrow icon

  • G93.-: Sonstige Krankheiten des Gehirns
    • G93.3: Chronisches Müdigkeitssyndrom [Chronic fatigue syndrome]
      • Inklusive
        • Chronisches Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion
        • Myalgische Enzephalomyelitis
        • Postvirales Müdigkeitssyndrom

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.

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